Individualisierung – Personalisierung – "Vermenschlichung"?
Ab und zu ist es gut, ausgetretene Pfade zu verlassen und Neues zu wagen. Scheinbar bekannte Fakten oder Stoffe aus ungewohnter Perspektive zu betrachten, kann sehr erfrischend und erfolgreich sein. Das hat der Siegeszug der Drohnen im Dokumentarfilm während der letzten Jahre bewiesen. Warum sollte, was für die Bildsprache gilt, nicht auch auf der textlichen Erzählebene funktionieren? Das haben sich unsere Kollegen von der BBC und von John Downer Productions gefragt und trafen eine mutige Entscheidung: Sie lassen die Tiere ihre Geschichten selbst erzählen. Eine geradezu revolutionäre Idee, schließlich handelt es sich bei dieser Highlight-Produktion nicht um einen Kinderfilm, sondern um eine millionenschwere seriöse Naturdokumentation.
Lange wurde an Konzepten gebastelt, um Kitsch zu vermeiden, die biologisch-dokumentarische Erdung nicht zu gefährden und sich nicht dem Vorwurf der übertriebenen Vermenschlichung auszusetzen. Sind die beiden erstgenannten Argumente eher filmemacherisch-handwerklicher Ausrichtung, besitzt hingegen das dritte Argument eine ungeahnte Tiefenwirkung, denn es geht hierbei nicht nur um Stil und Anmutung, sondern ganz grundlegend um das Bild, das wir Menschen uns vom Tier machen – und das ist dringend erneuerungsbedürftig.
Es mag zunächst skeptisch stimmen, wenn wir den Akteuren Namen geben. Doch das ist der erste Schritt, um das Tier als Individuum wahrzunehmen. Praktischerweise lassen sich so die Protagonisten besser voneinander unterscheiden. Jenseits dieser profanen Bedeutung steht das Tragen eines Namens für persönliche Identität, für eine Qualität, die den Tieren sehr lange vor allem von der Wissenschaft abgesprochen wurde. Viele Menschen jedoch, die mit Tieren eng zusammenlebten – Bauern, Hirten, Schäfer, später auch Haustierhalter – ahnten zumindest, dass in den Kreaturen mehr steckt als dumpfe Reaktionsbereitschaft. Rosamund Young, eine britische Öko-Landwirtin, hat es auf den Punkt gebracht: "Bloß weil wir nicht klug genug sind oder nicht genau genug hinsehen, um die Unterschiede zwischen einzelnen Ameisen, Schmetterlingen, Goldammern oder Kühen zu erkennen, gibt es keinen Grund, anzunehmen, dass sie nicht existieren."
Jeder, der mit Hunden, Katzen und Pferden, ja sogar mit Fischen vertraut ist, wird ohne Zögern Mrs. Young zustimmen und zahllose Anekdoten beitragen, die oft eine noch weiter reichende Ansicht über das Tier zu begründen versuchen. Bis vor wenigen Jahren haben viele Wissenschaftler derlei als gut gemeinte Schwärmerei abgetan. Doch der Vergleichenden Verhaltensforschung sind bisweilen weichenstellende Fehler unterlaufen, wie der Meeresbiologe Karsten Brensing jüngst dargelegt hat. Diese Erkenntnis hat zu einer fundamentalen Kehrtwende hinsichtlich der Einschätzung geistiger Fähigkeiten unserer nichtmenschlichen Verwandten geführt.
Klar formuliert der Zoologe und Verhaltensbiologe Norbert Sachser den aktuellen Trend der Wissenschaft bereits im Titel seines Buches "Der Mensch im Tier – Warum Tiere uns im Denken, Fühlen und Verhalten oft so ähnlich sind". Sachser: "Wir sind wie sie (meint Schimpansen, Delfine u.a.; Anm.d.Red.) Wirbeltiere, gehören wie sie zur Klasse der Säugetiere und teilen mit ihnen ein vergleichbares Gehirn, Nerven und Hormonsystem. Da das Denken, Fühlen und Verhalten letztlich auf die Aktivitäten dieser Systeme zurückgeht, sind Lebewesen einander umso ähnlicher, je vergleichbarer sie darin sind."
Inzwischen kommen in der Vergleichenden Verhaltensforschung und in der Kognitionsforschung Methoden zur Anwendung, die die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden versuchen. Heute weiß man, dass viele Tiere Gefühle wie Freude und Trauer empfinden, dass manche einen Sinn für Gerechtigkeit besitzen, dass sie lügen und tricksen, Freundschaften und Feindschaften unterhalten, dass sie vergeben können und, und, und ... Viele Tiere haben gute Auffassungsgaben, lernen, lösen teils komplizierte Probleme – nicht nur Säugetiere.
Auch Vögel sind uns mental und intellektuell wesentlich ähnlicher, als lange Zeit gedacht. So stimmen wir in der "Terra X"-Redaktion mit unseren britischen Kollegen darin überein, einen Geier Kommentar und Moderation übernehmen zu lassen. Geier haben den bestmöglichen Überblick über die gesamte Serengeti, werden sehr alt und sammeln viel Lebenserfahrung. So sehen wir den sprechenden Vogel zwar als dramaturgischen Kniff, der aber – abgesehen von der verbalen Kommunikation – durchaus eine zu einem gewissen Maße wissenschaftlich begründete Berechtigung besitzt. Den Skeptikern sei der Meeresbiologe Carl Safina zitiert: "Als ich noch nicht so viel mit Hunden und anderen Tieren ... zu tun hatte, fand ich es töricht, wenn Leute von ihren Hunden als 'Familienmitgliedern' oder von anderen Tieren als ihren Freunden sprachen. Heute habe ich das Gefühl, dass es töricht ist, es nicht zu tun."
Von Michael Leja
Bildquelle: ZDF/Elena Sollazzo