Macht Tiktok genug, um Kinder zu schützen?

    Interview

    Antworten eines Rechtsexperten:Macht Tiktok genug, um Kinder zu schützen?

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    Minderjährige sehen bei Tiktok auch sexualisierte Inhalte. Macht sich die Plattform damit strafbar? Anwalt Michael Terhaag über die Rechtslage - und was er sich von Tiktok wünscht.

    Die Illustration zeigt ein Smartphone mit einem Paragrafen - im Hintergrund ist die Waage als Symbol für die Justiz zu sehen.
    Welche Inhalte sehen Minderjährige bei Tiktok? Um das herauszufinden, haben Studierende der TU Dortmund in Kooperation mit ZDFheute für ein Experiment 40 Fake-Profile angelegt. Das Ergebnis: Kinder sehen auf der Plattform auch sexualisierte Inhalte. Das ist problematisch. Aber ist es auch illegal?
    Michael Terhaag ist Fachanwalt für IT-Recht und beschäftigt sich seit Jahren mit Medienrecht, Jugend- und Datenschutz. Gemeinsam haben wir uns einige Videos aus unserem Experiment angeschaut.
    ZDFheute: Herr Terhaag, in einem Video sagt eine Influencerin: "Steck ihn rein, Schatz, steck ihn endlich rein - tiefer, tiefer, fester", dazu hören wir eine Männer-Stimme im Off. Nach 15 Sekunden die Auflösung: Der Mann hilft der Frau beim Schuhe anziehen. Darf Tiktok das Minderjährigen zeigen?
    Michael Terhaag: Ich kann verstehen, wenn jemand sagt: 'Ich möchte nicht, dass mein Kind das sehen muss'. Um strafrechtlich relevant zu sein, müsste das Video aber jugendgefährdend oder entwicklungsbeeinträchtigend sein. Das sehe ich hier nicht.

    Michael Terhaag Porträt
    Quelle: Michael Terhaag/ Thorsten Schmidtkord

    ... ist Fachanwalt für IT-Recht. Zu seinen Schwerpunkten gehören Presse- und Medienrecht sowie Jugend- und Datenschutz.

    ZDFheute: Die sexuelle Anspielung ist eindeutig gegeben.
    Terhaag: Ja, man braucht hier nicht viel Fantasie, um darauf zu kommen, dass es ein sexualisierter Inhalt ist. Aber das Video ist ein gutes Beispiel für die Kunst- und Satire-Freiheit, die grundsätzlich besteht. Das mag nun nicht jeder lustig finden. Aber sagen wir es mal so: Schlechter Geschmack ist nicht strafbar.
    Welche Inhalte sehen Minderjährige auf Tiktok? Das Experiment der TU Dortmund in Zusammenarbeit mit ZDFheute finden Sie hier:

    Nachrichten | Digitales
    :Sex sells auf Tiktok? Was Kinder dort sehen

    Wie einfach kommen Kinder auf Tiktok an sexualisierte Videos? Ein Experiment von ZDFheute und TU Dortmund zeigt, wie die Plattform problematische Inhalte ausspielt.
    Die Illustration zeigt ein Smartphone mit dem Tiktok-Logo. Dahinter sitzt ein Mädchen auf einer Couch und schaut auf ihr Handy.
    ZDFheute: Wo wäre für Sie die Grenze des Legalen überschritten gewesen?
    Terhaag: Wenn ich Videos juristisch einschätze, dann schaue ich, ob sie sich an die normalen Spielregeln halten. Sind alle gezeigten Personen damit einverstanden? Wird jemand beleidigt? Werden falsche Tatsachenbehauptungen verbreitet? Im Zusammenhang mit dem Jugendschutz schaue ich auch, ob hier ein pornografischer Inhalt dargestellt wird.




    ZDFheute: Pornografie ist in Deutschland nicht verboten ...
    Terhaag: ... ist auf Tiktok aber rechtlich unzulässig, weil dort keine Alterskontrolle stattfindet.
    ZDFheute: Tiktok erlaubt Kindern ab 13 Jahren, ein Profil zu erstellen. Überprüft wird das Alter aber nicht. Müsste es da nicht eine strengere Kontrolle geben?
    Terhaag: Aus juristischer Sicht: nein. Dafür gibt es keine gesetzliche Grundlage. Das ist eher eine moralische Frage: Sollte Tiktok sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche bestimmte Inhalte nicht sehen können?
    ZDFheute: Damit würde sich Tiktok viel Kritik ersparen.
    Terhaag: Und viele Nutzer verlieren. Je höher die Zugangsschranken sind, desto weniger Nutzer hat eine Plattform. Ganz einfach.
    ZDFheute: Die Alterskontrolle ist ja nur eine Möglichkeit. Tiktok könnte auch dafür Sorge tragen, dass beispielsweise pornografische Inhalte gar nicht erst hochgeladen werden.
    Terhaag: Aber auch dazu können Sie Plattformen wie Facebook, Instagram oder Tiktok nicht verpflichten. Das ist im Telemediengesetz so festgehalten: Als Plattform muss ich nicht aktiv nach unzulässigen Inhalten suchen. Erst wenn jemand ein Video bei mir meldet, muss ich als Plattform tätig werden und den Inhalt - je nach Art des Verstoßes - binnen weniger Stunden oder Tage überprüfen.
    Ist der Inhalt tatsächlich unzulässig, muss Tiktok ihn sofort rausnehmen. Lässt Tiktok das Video stehen, haftet die Plattform für den Inhalt, als ob es ihr eigener wäre.

    Telemedien ist ein Rechtsbegriff für elektronische Informations- und Kommunikationsdienste. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Telemediengesetz geregelt. Auch Plattformen wie Tiktok sind Telemediendienste.

    Im Telemediengesetz ist geregelt, dass die Plattformen zwar nicht aktiv nach strafbaren Inhalten suchen müssen. Sie müssen aber sicherstellen, dass Inhalte gemeldet werden können. Diese Funktion muss leicht erkennbar und bedienbar, unmittelbar erreichbar und ständig verfügbar sein. Nach Eingang einer Beschwerde muss die Plattform unmittelbar überprüfen, ob ein rechtswidriger Inhalt vorliegt - und diesen entfernen oder den Zugang dazu sperren.

    ZDFheute: Das macht einen jugendgefährdenden Inhalt bei einem 13-Jährigen nicht ungesehen. Ist das Telemediengesetz da noch zeitgemäß?
    Terhaag: Ich finde die Grundsätze des Telemediengesetzes gut. Das Internet lebt davon, dass nicht alles automatisiert überprüft werden muss. Ich bin auch kein Freund davon, nach härteren Gesetzen zu schreien.
    Aber klar: Eine wirkliche Lösung für ein so schnelllebiges Medium wie Tiktok gibt es noch nicht. Und Gesetze müssen mit der Technik mitgehen. Wenn Jugendliche jetzt sehr viele geschmacklose Inhalte oder sehr viel nackte Haut bei Tiktok sehen, könnte man durchaus darüber nachdenken, ob diese Inhalte stärker gefiltert werden müssten - oder wenigstens eine Trigger-Warnung bekommen, wie es bei entsprechenden Computerspielen oder Filmen der Fall ist.
    ZDFheute: Tiktok hat keinen Sitz in Deutschland. Was heißt das für jemanden, der ein Video juristisch verfolgen will?
    Terhaag: Zunächst kann ich den Inhalt ja bei der Plattform melden und hoffen, dass Tiktok ihn löscht. Wenn die Plattform das nicht macht, kann ich die Löschung auch vor deutschen Gerichten einfordern und letztendlich in Irland durchsetzen, wo Tiktok seinen Sitz hat. Aber das ist mit sehr viel Aufwand verbunden - und kann auch kostspielig sein. Hier wäre eine Kontaktstelle in Deutschland wünschenswert. Zumal es oftmals schwer ist, die Löschung bei denen durchzusetzen, die das Video hochgeladen haben.
    ZDFheute: Warum das?
    Terhaag: Sie wissen ja oftmals nicht, wer sich hinter einem Nutzernamen verbirgt. Wenn Sie da auf Schadensersatz oder Unterlassung klagen möchten, müssen Sie erst einmal den Verantwortlichen ausmachen. Wenn Tiktok da nicht bereit ist, Informationen herauszugeben, haben Sie kaum eine Chance.
    ZDFheute: Halten wir fest: Strafbare Inhalte hat Tiktok während unseres Experiments zwar nicht ausgespielt. Trotzdem gibt es im Umgang mit juristisch relevanten Inhalten und beim Jugendschutz noch Verbesserungsbedarf.
    Terhaag: Den gibt es aber nicht nur bei Tiktok. Letztendlich bleibt auch eine Verpflichtung bei den Eltern. So wie ich meinem Kind beibringe, im Straßenverkehr erst links und rechts zu schauen, muss ich meinem Kind auch das Internet erklären. Außerdem müsste das Thema in den Schulen viel mehr Anklang finden. Warum gibt es da kein Unterrichtsfach? Internetrecht, der Umgang mit sozialen Medien, der sichere Umgang mit Informationen aus dem Internet: Das ist heutzutage genauso bedeutend wie Politik oder Sozialwissenschaften.
    ZDFheute: Herr Terhaag, danke für das Gespräch.
    Wie Eltern ihre Kinder auf Tiktok schützen können, lesen Sie hier:

    Gefährdende Inhalte
    :Tiktok: Wie Eltern ihr Kind schützen können

    Auf Tiktok können Kinder fast alles sehen - auch Inhalte, die nicht altersgerecht sind. Wir beantworten, was Eltern über die Plattform wissen müssen.
    von Kirsten Pfister, Henri Schlund
    Die Illustration zeigt ein Smartphone mit einem Schloss-Symbol. Im Hintergrund stehen ein Vater und seine Tochter, die auf ihr Handy schaut.
    FAQ
    Das Interview führte Leon Hüttel von der TU Dortmund.
    Redaktion: Robert Meyer, Kevin Schubert
    Design: Jens Albrecht (im Auftrag des ZDF)

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