Der Kapitol-Sturm hat gezeigt, wie gefährlich Fake News sind, so Wikipedia-Mitgründer Jimmy Wales: "Es führt zu Gewalt." Die Rolle der sozialen Medien erklärt er im Interview.
ZDFheute: Wikipedia wollte und will das Wissen der Welt allen Menschen zugänglich machen. Mit einer ganz ähnlichen Mission haben Larry Page und Sergej Brin Google gegründet. Die beiden sind jetzt Milliardäre. Ärgert es Sie manchmal, dass Sie Wikipedia nicht zu einem For-Profit-Unternehmen gemacht haben?
Jimmy Wales: Nein, ich bin glücklich, dass Wikipedia so ist, wie sie ist.
Außerdem habe ich ja For-Profit-Unternehmen, die gut laufen. Mein Leben ist total spannend. Normalerweise reise ich um die Welt und treffe mich mit Staatschefs oder anderen Persönlichkeiten. Aber momentan sitze ich zu Hause auf meinem Dachboden. Meine Rolle bei Wikipedia ist, die Menschen an unsere Prinzipien und Werte zu erinnern. Wir wollen eine positive Kraft in der Welt sein.
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ZDFheute: Auch nach 20 Jahren wird die Verlässlichkeit von Wikipedia häufig angezweifelt.
Wales: Die Leute müssen verstehen, wie Wikipedia funktioniert. Für gewöhnlich sind die Artikel ziemlich gut. Wichtig ist, dass alles mit verlässlichen Quellen belegt wird. Wenn man sich bei einer Information nicht sicher ist, sollte man die Quellen checken.
Wenn Leute mit Wikipedia nicht zufrieden sind, liegt es häufig daran, dass es Fehler in den Originalquellen gibt, oder dass Quellen nicht ausgeglichen sind. Wir wollen einen robusten und reflektierten Diskurs über Ideen und Fakten führen, um zur Wahrheit zu kommen. Dabei verbessern wir uns konstant, keine Frage.
Wenn man an tatsächliche Fälle von Desinformation, Fake News zurückdenkt, sieht man, dass es sehr schwer ist, die Wikipedia-Community zu täuschen. 2016 vor der Wahl Trumps gab es eine Falschinformation, die viral ging. Demnach hätte der Papst zur Wahl Donald Trumps aufgerufen. Das wurde in sozialen Netzwerken tausendfach geteilt, aber in die Wikipedia hat die Geschichte es nicht geschafft. Denn die Wikipedianer werfen da einen Blick drauf und sagen: "Echt jetzt? Das glaube ich nicht." Dann wurde das geprüft und es stellte sich heraus, dass es komplett erfunden war.
Es gibt immer weniger Journalisten, vor allem im Lokalen. Der erste Entwurf der Geschichte, den Journalisten bislang geschrieben haben, wird sozusagen nicht mehr verfasst. Das wird auch die Arbeit der Wikipedia sehr erschweren.
ZDFheute: Sie haben mit Wikitribune auch ein Projekt gestartet, das dieses Problem angehen sollte. Mittlerweile sind Sie umgeschwenkt und haben das soziale Netzwerk WT.social gegründet.
Wales: Ja, ich arbeite an vielen Ideen dazu, was soziale Medien mit der Welt gemacht haben. Was sie mit dem Journalismus gemacht haben. Und wie können wir ein Umfeld gestalten, in dem Journalismus funktionieren kann ohne Clickbait.
Wir sollten darüber nachdenken, wie man Qualitätsjournalismus belohnen kann. Wenn ein soziales Netzwerk daraufhin optimiert wird, dass Menschen qualitativ gute Inhalte zu sehen bekommen, nicht dass man möglichst viel Geld mit Werbung verdient, dann könnte da vieles verbessern. WT.social ist ein Pilotprojekt in diese Richtung. Ich kann nicht behaupten, dass ich schon die Lösung gefunden hätte, aber ich arbeite dran.
Die klassischen Medien haben Trump mit groß gemacht, sagt der Politberater Julius van de Laar bei "Markus Lanz". Durch die Berichterstattung über seine Tweets, wird die Reichweite noch viel größer.
ZDFheute: Noch ist das Projekt aber bei weitem keine Konkurrenz zu Facebook & Co.
Wales: Was wir bisher gebaut haben, ist die Basis-Version mit den bekannten Funktionen: Nutzer können zum Beispiel posten und teilen. Der nächste Schritt ist, ein sinnvolles Nutzererlebnis zu schaffen für den Austausch mit Freunden, der Familie oder in intellektuellen Salons. Deshalb entwickeln wir gerade Video-Produkte, die neu definieren, wie soziale Verbindungen online aussehen.
Soziale Netzwerke haben auch eine große Rolle während der Präsidentschaft von Donald Trump gespielt. Sie helfen Menschen dabei, mit Lügen und Unwahrheiten alternative Realitäten aufzubauen. Wozu das führen kann, haben wir beim Sturm auf das Kapitol in Washington gesehen.
Es führt zu Gewalt. Es führt dazu, dass Menschen ihre Wahlentscheidung aufgrund von Desinformation treffen. Es ist eines der größten Probleme, dem wir als gesamte Menschheit gegenüberstehen. Dabei haben wir all die Technologie, all die Möglichkeiten Wissen zu teilen und Menschen zu bilden, sodass sie bessere Entscheidungen treffen können.
Das heißt ja nicht, dass wir uns alle in allem einig sein müssen.
Das führt dann zu einer konstruktiven Diskussion.
ZDFheute: Um eine gemeinsame Basis von Fakten zu schaffen, ist Wikipedia auf die Arbeit von vielen ehrenamtlichen Wikipedianern angewiesen. Das raue Diskussionsklima scheint aber auch viele abzuschrecken. Und es sind vor allem Männer, die bei Wikipedia mitarbeiten.
Wales: Viele Wikipedianer arbeiten schon sehr lange am Projekt mit. Da vergisst man auch mal, wie es ist, neu zu sein. Wenn jemand neu dazukommt, einen Artikel schreibt, dann sollten wir nachsichtig sein und den Neulingen helfen, Fehler zu korrigieren. Viele Wikipedianer machen das, aber eben nicht alle. Da müssen wir uns verbessern.
Die Frage zur Beteiligung von Frauen ist sehr wichtig. Wir wollen, dass mehr Frauen an der Wikipedia mitarbeiten. Wir arbeiten an einem neuen Verhaltenskodex. Der soll sicherstellen, dass schlechtes Verhalten oder Belästigung nicht toleriert wird. Wir wollen eine offene, freundliche und solidarische Umgebung für jeden, der mitmachen will, bieten.
- Mehr Frauen für Wikipedia
Die freie Online-Enzyklopädie ist zwar offen für jeden, aber bis heute sehr männerdominiert. Mit Workshops und Mentorinnen-Programmen versuchen Wikipedianerinnen gegenzusteuern.
ZDFheute: Was sind die großen Ziele der nächsten 20 Jahre?
Wales: Eines unserer großen Ziele ist es, dass die Wikipedia in den Sprachen von Entwicklungsländern wächst. Das heißt, wir müssen neue Communities aufbauen mit Menschen, die jetzt einen Internetzugang bekommen – und das hauptsächlich über mobile Geräte. Also müssen wir sicherstellen, dass die Mitarbeit über Smartphones gut funktioniert.
Eine weitere Herausforderung ist, dass Gesetze verändert werden. Überall in der Welt wollen Regierungen mehr und mehr zensieren, sie wollen kontrollieren. Angenommen die Wikimedia Foundation müsste für alles haften, was Nutzer auf der Plattform sagen, würde es sehr schwierig werden, eine offene Plattform überhaupt zu betreiben.
Das Interview führte Stephan Mündges.