Lange war das Bundesverfassungsgericht die höchste Autorität in der Rechtsprechung. Nun gewinnt der EU-Gerichtshof an Bedeutung. Er muss nicht nach der Karlsruher Pfeife tanzen.
Den Europäischen Gerichtshof gibt es schon seit 1953, doch anfangs hatte er kaum Einfluss auf die Rechtsprechung in Deutschland: Die Bestimmungen, die er auszulegen hatte, regelten hauptsächlich das Beziehungsgefüge zwischen den europäischen Institutionen und den Regierungen.
Mittlerweile hat sich das grundlegend geändert: Der europäische Binnenmarkt, die Reise- und Niederlassungsfreiheit - all das funktioniert nicht ohne einheitliche Regeln. Die zunehmende Vergemeinschaftung hat zur Folge, dass auf vielen Gebieten europaweite Richtlinien und Verordnungen gelten - etwa im Wettbewerbsrecht, im Arbeits- und Sozialrecht, beim Datenschutz, beim Umgang mit Flüchtlingen. Sogar eine gemeinsame Grundrechte-Charta hat die EU sich gegeben. Und immer häufiger stellt sich die Frage: Was gilt nun - nationales Recht oder europäisches?
Ferdinand Kirchhof ist ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Im Interview kommentiert er die Machtbalance zwischen dem europäischen Gerichtshof und nationalen Verfassungsgerichten.
Mitunter gegensätzliche Urteile
Beispiel: Der Streit um den Chefarzt eines katholischen Klinikums in Köln. Als er sich scheiden ließ und wieder heiratete, erhielt er die Kündigung. Begründung: er habe gegen das katholische Prinzip der Unauflöslichkeit der Ehe verstoßen. Das Bundesverfassungsgericht gab der Kirche recht: Laut Grundgesetz dürfe sie ihre inneren Angelegenheiten selbständig regeln. Deshalb könne sie auch von einem Mediziner in leitender Funktion eine private Lebensführung im Sinne der kirchlichen Lehre verlangen.
EU bedeutet auch, Kompetenzen und Macht mit anderen Staaten zu teilen. Das betont Europarechtlerin Stephanie Schiedermair. Das Bundesverfassungsgericht werde nicht zum Verlierer.
Ganz anders entschied dann der Europäische Gerichtshof (EuGH): Wegen seines Privatlebens dürfe der katholische Arzt nicht gekündigt werden, das sei diskriminierend gegenüber anderen Ärzten. Der Mediziner behielt seinen Job. Nicht Karlsruhe gab also den Ton an, sondern Luxemburg.
Kritik aus Deutschland
Ein Vorgang, den der ehemalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, zum Anlass nimmt, um kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Amt deutlich Kritik zu üben: Der EuGH mische sich unnötigerweise in nationale Angelegenheiten ein, statt sich auf Fragen zu beschränken, die für die europäische Integration wichtig sind.
Andere werben um Verständnis für den EuGH: "Er hat eine schwierige Aufgabe: die Wahrung der Rechtseinheit in der EU. Und die gelingt ihm in der Regel sehr gut", meint Stephanie Schiedermair, Professorin für Europarecht an der Universität Leipzig.
70 Jahre Grundgesetz:
Und sie weist darauf hin, dass die deutsche Verfassung ausdrücklich vorsieht, Kompetenzen an europäische Institutionen abzutreten. In Artikel 23 des Grundgesetzes heißt es: "Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit (…). Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen."
Karlsruhe hat das letzte Wort
Auch wenn der Europäische Gerichtshof immer wichtiger werde - in vielen Fragen habe das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort, so Schiedermair. Über Verfassungsbeschwerden wegen der Verletzung im Grundgesetz garantierter Rechte entscheiden allein deutsche Richter - ein Weg, den auch die katholische Kirche im Chefarzt-Fall noch einmal beschreiten könnte. Das Kräftemessen zwischen Karlsruhe und Luxemburg ist noch nicht zu Ende.