In Algerien wird heute ein neuer Präsident gewählt. Viele wollen nicht wählen gehen. Sie fordern einen Systemwechsel und der ist für sie mit den Kandidaten nicht machbar.
Die mehrfach verschobene Präsidentschaftswahl in Algerien ist heute unter Massenprotesten nachgeholt worden. In der Hauptstadt Algier gingen Tausende Menschen auf die Straße.
Seelenruhig und liebevoll schneidet ein Blumenverkäufer auf einer der Hauptstraßen von Algier seine Rosen zurecht. Als würde er die aufgebrachte Menschenmenge direkt neben ihm nicht wahrnehmen. Tausende haben sich auch an diesem Mittwoch versammelt, um ihre Wut hinauszuschreien. Ihre Wut auf ein Regime, das ihnen Wahlen aufdrückt, die ihrer Meinung nach eine Farce sind.
"Wir wollen einen wirklichen Regierungswechsel, wir wollen in unserem Land frei leben und Arbeit haben", sagt eine junge Frau. Sie alle hier rufen zum Boykott der Abstimmung auf. 70 Prozent der Algerier sind unter 35 Jahre alt, sie haben nichts anderes gekannt als das Regime von Ex-Präsident Bouteflika. Eine korrupte Diktatur, in der es keinerlei Meinungsfreiheit gab. Jetzt wittern sie Morgenluft. Seit zehn Monaten gehen sie auf die Straße: Junge, Alte, Männer, Frauen.
Demonstranten sind unzufrieden und verzweifelt
Viele glauben wieder an eine Zukunft von und in Algerien. Und eines haben die Protestierenden schon erreicht: den Rücktritt des verhassten Präsidenten Bouteflika - das hatte niemand erwartet. Nun wollen sie einen echten Systemwechsel. Doch die fünf Kandidaten, die sich heute zur Wahlen stellen, sind alle eng verbunden mit dem alten Regime. Zwar versprechen sie Erneuerung und Offenheit - doch kaum einer traut ihnen.
In den Protesten drückt sich tiefe Unzufriedenheit und Verzweiflung aus. Das eigentlich so reiche Algerien hat große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Die Arbeitslosigkeit, vor allem bei den jungen Menschen, ist hoch. Der Mindestlohn liegt bei umgerechnet 150 Euro. Doch die Preise steigen fast täglich. Früher konnte sich das Regime sozialen Frieden erkaufen. Doch jetzt zieht das nicht mehr. Obwohl – alte Traditionen halten sich – die jetzige Übergangsregierung Tausende Wohnungen verschenkt. Einzige Voraussetzung dafür ist, dass die so Beschenkten zur Wahl gehen müssen.
Enthaltung als Protestzeichen
Die Kritiker wollen mit einer Enthaltung ihren Protest zeigen. "Wir nehmen nicht an einer Wahl teil, die eine Lüge ist. Wir stehen für ein anderes, ein neues Algerien" ruft eine junge Frau. "Erzählen Sie die Wahrheit, sagen Sie, dass wir diese Wahl nicht wollen", rufen Protestierende immer wieder.
Die Polizei ist allgegenwärtig, aber sie hält sich zurück. Die meisten Sicherheitskräfte sind sehr jung. Angeblich haben Tausende Mitarbeiter in den letzten Monaten den Dienst quittiert. Immer wieder werden Demonstranten von Beamten in Zivil festgenommen. Der freie Journalist Khaled Drareni hat solche Festnahmen schon mehrfach miterlebt. "Für die meisten hängt Unterdrückung immer mit Blut, Schüssen und Feuer zusammen" erzählt er, "aber auch Festnahmen sind eine Form der Unterdrückung, genauso wie die Einschüchterung von Menschen."
Der Anwalt Mustafa Bouchachi, ehemaliger Vorsitzender der algerischen Liga für Menschenrechte, sieht dennoch Fortschritte: "Der große Erfolg der Protestbewegung ist: Es ist gelungen, die Mauer der Angst zu durchbrechen. Die Algerier, egal welcher Herkunft, stehen wieder zusammen", sagt Bouchachi.
"Präsident wird schwach sein"
Die algerischen Behörden geben sich in diesen Tagen betont liberal. Erstaunlich viele ausländische Journalisten haben ein Visum für dieses eigentlich hermetisch abgeriegelte Land bekommen. Diese Erfahrungen macht auch das Drehteam des ZDF. In der Praxis zeigen sich dann jedoch wieder Einschränkungen für Drehs und Interviews.
Vor der Grande Poste, die früher Dreh- und Angelpunkt der Nachrichtenübermittlung war, versuchen die Demonstranten auf ihre Art, ihr Anliegen in die Welt zu tragen. "Wir werden nicht wählen und dabei bleiben wir." Den ganzen Wahltag über wollen sie weiter protestieren.
Beobachter gehen davon aus, dass die Wahllokale relativ leer bleiben. "Der Präsident, der gewählt wird, wird ein sehr schwacher Präsident sein", sagt Mustafa Bouchachi voraus. "Außerdem wird er Geisel der bisherigen Machthaber sein." Dennoch ist der Anwalt relativ zuversichtlich: "Die Regierung muss sich mit den Demonstranten zusammen setzen, es muss und wird eine Art der Veränderung geben." Heute wird sich entscheiden, wer Algeriens Schicksal in der Hand hält: Die Straße oder die alten Machthaber.