Im Südwesten der Republik wird erprobt, ob Telemedizin den Arztbesuch ersetzen kann - zumindest manchmal. Es gibt gute Gründe und gute Vorbilder, aber auch hohe Hürden.
Der acht Monate alte Valentin ist krank. Er hat Bauchschmerzen, quengelt. Seine Mutter Kristin macht sich Sorgen, kann aber nicht mal eben zum Kinderarzt fahren. Denn da sind noch die anderen beiden Kinder zu Hause, die auch betreut werden müssen. Also wählt sie die Stuttgarter Telefonnummer 0711-96589700. Dort melden sich die medizinischen Fachangestellten der Kassenärztlichen Vereinigung. Die versprechen: Ein Kinderarzt wird Kristin zurückrufen, innerhalb der nächsten halben Stunde.
Zum ersten mal ist es Ärzten in Deutschland erlaubt, Patienten aus der Ferne zu behandeln - also per Videochat oder am Telefon - und zwar auch solche, die sie vorher noch nie persönlich getroffen haben. Baden-Württemberg ist Vorreiter, mit einem telemedizinischen Pilotprojekt für gesetzlich Versicherte.
Schnelle Termine via Docdirekt
Kinderarzt Thomas Finkbeiner ist einer der rund 35 Ärzte, die mitmachen beim telemedizinischen Netzwerk Docdirekt. Über das gleichnamige Internetportal stellt er die Videochat-Verbindung mit Kristin und dem kleinen Valentin her, lässt sich Symptome schildern, stellt Fragen. Und kann die Mutter beruhigen: Alles im grünen Bereich, das Baby sieht gut aus, hat kein Fieber, trinkt genug. Den Praxisbesuch kann sie sich erstmal sparen. Wäre es was ernstes, könnte Finkbeiner der Mutter sofort eine Praxis vorschlagen, in der sie noch am selben Tag einen Termin bekäme. Auch das ist Teil des Konzepts von "Docdirekt".
Dass der Arzt einen Patienten über digitale Distanz behandeln darf, ist neu: Bundesweit lässt das Berufsrecht der Ärztekammern traditionell nur zu, dass aus der Ferne beraten werden darf, wenn Arzt und Patient sich persönlich kennen. Doch die Landesärztekammer in Baden-Württemberg hat durchgesetzt, was unter Ärzten und bei mächtigen Playern im deutschen Gesundheitswesen immer noch hoch umstritten ist: Erstkontakt mit Lizenz für eine Diagnose per Video oder am Telefon.
Vorreiter im Ausland
Dafür hat sich Ulrich Clever, Präsident der Ärzteschaft im Südwesten, stark gemacht. Er will verhindern, dass Patienten im Ausland anrufen, wenn sie medizinische Fragen loswerden wollen - auf die Schnelle oder vielleicht auch, weil es ihnen unangenehm ist, intime Probleme in der Praxis zu schildern. Denn längst ist die Telemedizin in europäischen Ländern verbreitet: in Skandinavien, Großbritannien und vor allem in der Schweiz.
Seit 18 Jahren schon praktizieren die Eidgenossen, was in Deutschland noch als ärztliche Zukunft gilt. Der Telemedizin-Anbieter Medgate mit seinem großen Telefoncenter in Basel ist Vorbild für alle, die in Deutschland an der Telemedizin arbeiten. Sämtliche Funktionäre im deutschen Gesundheitswesen haben Medgate in den vergangenen Jahren besucht. Doch wirklich möglich wurde hier nicht, was in der Schweiz zu besichtigen ist: Die Bundesärztekammer müsste dazu ihr Berufsrecht lockern - so wie es jetzt in Baden-Württemberg passiert ist. Und es gibt noch mehr Unterschiede. So sind die Schweizer Krankenkassen längst zahlreich mit im Boot, zahlen ihren Versicherten etwa Boni, wenn die zuerst den Arzt anrufen statt gleich in der Praxis aufzutauchen.
Ärztemangel nicht nur in Deutschland
Und noch einem weiteren Missstand wollen die Baden-Württemberger abhelfen. Ärztemangel kennt man nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz. Ärztekammer-Präsident Clever geht davon aus, dass viele deutsche Ärzte längst telemedizinisch für Schweizer Unternehmen arbeiten - womöglich sogar aus dem Homeoffice diesseits der Grenze. Das wäre berufsrechtlich problematisch.
Ein dickes Brett ist zu bohren, würde das deutsche Gesundheitswesen tatsächlich flächendeckend auf digitalen Kurs einschwenken. Denn dabei winken lukrative Geschäfte mit der Telemedizin. 30 bis 50 Prozent aller Patienten in der Schweiz lassen sich heute schon telemedizinisch behandeln. Doch viele Mitwirkende mit starken Interessen müssten hierzulande mitziehen. Und mitreden.
Wie damals beim Stethoskop
Deshalb kann sich Baden-Württembergs Pilotprojekt Docdirekt noch nicht gänzlich frei entfalten. Denn um für Kassenpatienten Rezepte auszustellen, müsste etwa das Arzneimittelgesetz geändert werden. Also setzen sie im Südwesten jetzt auf den großen Sog der digitalen Entwicklung - und warten noch auf die Möglichkeit, aus der Ferne Arzneien verschreiben zu dürfen. Ähnliches gilt für Krankschreibungen.
Dass Ärztevertreter ihre Traditionen wahren wollen, das war schon immer so. In der Bundesärztekammer erinnern manche daran, dass auch bei Einführung des Stethoskops - erfunden Anfang des 19. Jahrhunderts - leidenschaftlich darüber debattiert wurde, ob sich das ärztliche Berufsbild nun grundlegend zu wandeln drohe. So argumentieren die Skeptiker auch heute: Die Online-Sprechstunde sei sicher mal hilfreich, ersetze aber keinesfalls den echten Kontakt zum Patienten. Nur so sei dieser gänzlich zu beurteilen. Und der Ärztemangel auf dem Land ließe sich auch nicht einfach so per Tele-Arzt beheben.
So sicher oder so anfällig wie schon immer
Doch die eigens entwickelte App von Docdirekt macht es jetzt möglich, auf digitalem Kanal in die Praxis zu kommen. Einfach auf auf dem Smartphone "Videoanruf" tippen. Datenschutzrechtliche Bedenken? Die Ärztekammer sagt: Befunde werden so vom Arzt dokumentiert, wie beim herkömmlichen Praxisbesuch auch. Sei alles so sicher oder so anfällig wie schon immer. Denn wenn die Arzthelferin mit dem Patienten an der Anmeldung dessen Beschwerden so laut bespricht, dass das gesamte Wartezimmer mithören kann, ist das datenschutzrechtlich auch nicht ganz unproblematisch.
Im Südwesten testen die Ärzte die mögliche digitale Zukunft jetzt. Und im Mai soll der Deutsche Ärztetag bei seinem Treffen in Erfurt darüber entscheiden, ob sich Ärzte bundesweit vom Fernbehandlungs-Verbot lossagen wollen. Das wäre eine Revolution für das deutsche Gesundheitswesen.