Katerstimmung nach dem Vierfach-"No" aus London. Der Brexit-Koordinator des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, hält einen harten Brexit nun für "fast unvermeidlich".
Der Brexit-Koordinator des Europaparlaments, Guy Verhofstadt, hat alarmiert auf den Ausgang der jüngsten Brexit-Abstimmungen im britischen Unterhaus reagiert. Ein harter Brexit sei nunmehr "fast unvermeidlich", schrieb Verhofstadt am späten Montagabend im Kurzbotschaftendienst Twitter. Am Mittwoch habe Großbritannien "eine letzte Chance", aus der Sackgasse zu kommen. Ansonsten drohe "der Abgrund", schrieb Verhofstadt.
Am Montag war es dem Parlament in London auch im zweiten Anlauf nicht gelungen, sich auf eine Alternative zum Austrittsabkommen von Premierministerin Theresa May zu einigen. Das Unterhaus lehnte am Montagabend alle vier zur Abstimmung stehenden Vorschläge ab.
Im Brexit-Chaos steht dem britischen Parlament eine Marathon-Sitzung bevor. Eine Einigung ist jedoch nicht in Sicht. "Es wird krachen", prophezeit ZDF-Korrespondent Andreas Stamm.
Barnier: Harter Brexit kann noch abgewendet werden
EU-Unterhändler Michel Barnier hält einen harten Bruch nächste Woche indes noch für vermeidbar. "Ein No-Deal-Szenario ist wahrscheinlicher geworden, aber wir können es noch verhindern", sagte Barnier am Dienstag in Brüssel. Für einen geregelten EU-Ausstieg müsse das britische Parlament aber den bereits ausgehandelten Austrittsvertrag verabschieden.
"Wenn Großbritannien die EU immer noch auf geordnete Art und Weise verlassen will, ist und bleibt diese Vereinbarung die einzige", sagte Barnier. "Der einzige Weg, einen No-Deal zu vermeiden, wird ein positives Votum sein." Geschehe dies noch vor dem EU-Sondergipfel am 10. April, könne er sich eine weitere kurze Verschiebung vorstellen - auch wenn dies in der Hand der Staats- und Regierungschef liege.
Stimme das Unterhaus jedoch in den nächsten Tagen nicht mehr zu, blieben nur zwei Optionen: ein EU-Austritt ohne Vertrag, den das Unterhaus erklärtermaßen nicht wolle, oder eine lange Verschiebung des Brexits. Da dieser für die EU große politische Risiken berge, müsste Großbritannien dafür aber eine sehr gute Begründung liefern.
May Kabinett soll fünf Stunden lang tagen
Brexit-Minister Stephen Barclay brachte noch am Abend eine vierte Abstimmung über Mays Abkommen ins Spiel. Es sei möglich, noch in dieser Woche einen Deal zu erreichen. Gesundheitsminister Matt Hancock twitterte: "Können wir jetzt bitte alle für den Deal stimmen und den Brexit durchführen?" Doch bereits am Mittwoch haben die Abgeordneten wohl Gelegenheit, erneut über Alternativvorschläge abzustimmen.
Um aus der Sackgasse herauszukommen, hat May für Dienstag eine mehr als fünfstündige Sitzung ihres Kabinetts einberufen - in unterschiedlicher Besetzung. Normalerweise dauert eine Sitzung des Kabinetts etwa 90 Minuten. Medienberichten zufolge machen einige Minister Stimmung für einen No-Deal-Brexit, andere fordern, eine engere Anbindung an die EU zur Regierungslinie zu machen. Der Vorschlag, in der europäischen Zollunion zu bleiben, kam am Montag bei der Abstimmung einer Mehrheit noch am nächsten, allerdings gegen den Widerstand eines großen Teils der konservativen Regierungspartei.
London will keine Teilnahme an Europawahl
Einigt sich das Parlament weder auf Mays Deal noch auf eine Alternative, droht ein Austritt ohne Abkommen. Möglich wäre aber auch eine erneute Verschiebung des Brexits. Doch dies wäre mit einer Teilnahme der Briten an der Europawahl Ende Mai verbunden - das will London unbedingt vermeiden. Zudem dürfte Brüssel eine triftige Begründung für einen neuerlichen Aufschub verlangen. Immer mehr wird daher auch über eine Neuwahl spekuliert.
In Paris empfängt am Dienstag der französische Präsident Emmanuel Macron den irischen Regierungschef Leo Varadkar. Die Frage, wie künftig Grenzkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem britischen Nordirland verhindert werden können, ist einer der größten Streitpunkte beim Brexit. Sollten wieder Grenzkontrollen zwischen den beiden Teilen Irlands eingeführt werden, wird mit neuer Gewalt in der ehemaligen Bürgerkriegsregion gerechnet. Mit dem geplanten Austritt Großbritanniens aus der Zollunion scheint das aber kaum zu verhindern.
"Lächerliche Selbstblockade"
EU-Politiker reagierten entsetzt auf die erneute Ablehnung aller Optionen in London. Jens Geier (SPD) sprach von einer "inzwischen lächerlichen Selbstblockade im britischen Parlament" und forderte: "Einer Verlängerung der EU-Mitgliedschaft über den 12. April hinaus kann die Europäische Union nur mit der gleichzeitigen Ansage eines zweiten Referendums stattgeben."
Zur Abstimmung im Unterhaus standen am Montag vier Alternativen zum Brexit-Deal: zwei Optionen für eine engere Anbindung an die Europäische Union, der Vorschlag für ein zweites Referendum sowie der Plan, den Brexit notfalls abzusagen, um einen Austritt ohne Abkommen zu verhindern.
Auch britische Abgeordnete sind frustriert
Die Idee einer Zollunion mit der EU kam einer Mehrheit bei der Abstimmung am nähesten. Dafür stimmten 273 Abgeordnete, 276 votierten dagegen. Um sich mit Sicherheit mit einer Alternative durchsetzen zu können, wären im Unterhaus mindestens 318 Stimmen notwendig.
Viele britische Abgeordnete waren nach Bekanntgabe des Ergebnisses völlig frustriert. Nick Boles, der einen der Alternativvorschläge eingebracht hatte, trat umgehend aus der regierenden Konservativen Partei aus. "Ich habe alles gegeben, um einen Kompromiss zu finden, um unser Land aus der EU zu bringen und trotzdem unsere wirtschaftliche Stärke und unseren politischen Zusammenhalt zu bewahren ... Ich habe versagt", sagte Boles mit brüchiger Stimme.
Die Parlamentarier hatten am vergangenen Freitag Mays Brexit-Abkommen zum dritten Mal abgelehnt. Auch über eine Neuwahl wird im Land zunehmend diskutiert, um aus dem Brexit-Dilemma herauszukommen.