Zwei ehemalige Parteigenossen des türkischen Präsidenten Erdogan gründen eigene Parteien. Ins politische System der Türkei kommt Bewegung. Welche Chancen sie gegen Erdogan haben.
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"Als Partei lehnen wir einen Führerkult ab - und das Verständnis einer passiven Kaderstruktur", ruft Ahmet Davutoglu in den Saal und seine Anhänger jubeln. In einem Satz fasst Davutoglu die Gründe zusammen, die ihn und viele andere dazu brachten, der regierenden AK-Partei von Präsident Erdogan den Rücken zu kehren. Nun verkündet der ehemalige Premierminister die Gründung einer eigenen Partei: "Gelecek Partisi" - "Zukunftspartei".
Kritik an Erdogans "Ein-Mann-Show"
Davutoglu ist nicht der einzige, der sich verbittert aus dem Machtblock "AKP" verabschiedete. Auch der ehemalige Außen- und Wirtschaftsminister Ali Babacan, wie Davutoglu Gründungsmitglied der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), gab vor wenigen Tagen in einer Fernsehshow bekannt, dass er sehr bald ebenfalls eine neue Partei gründen will. Beide sind ehemalige Polit-Schwergewichte und beide kritisieren, dass sich die AKP unter Präsident Erdogan immer mehr zu einer Ein-Mann-Show hin und von den Menschen weg entwickelt hätte.
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Tatsächlich rumort es schon seit einiger Zeit in der seit 17 Jahren ununterbrochen regierenden AKP. Intern wird der autokratische Regierungsstil des Präsidenten beklagt, ebenso wie viele Entscheidungen in der Finanz-, Wirtschafts- und Außenpolitik. Doch Kritiker aus den eigenen Reihen werden kalt gestellt, Kontroversen unterdrückt. Nur ein enger Kreis von Beratern um Erdogans Schwiegersohn und Finanzminister, Berat Albayrak, hat Zugang zum Präsidenten.
Hunderttausende Mitglieder haben die AKP verlassen
Nachdem bei den Kommunalwahlen in diesem Sommer fünf der größten Städte des Landes an die Oppositionspartei CHP gefallen waren, nahm die parteiinterne Kritik immer mehr zu. Gründe für die Niederlagen waren vor allem der Niedergang der türkischen Wirtschaft und der Verfall der türkischen Währung und damit einhergehend eine steigende Zahl von Arbeitslosen, aber auch der Unmut über fast vier Millionen syrische Flüchtlinge im Land. Vor allem der Verlust der Wirtschaftsmetropole Istanbul schmerzte und viele sahen darin bereits den Anfang des Endes der Ära Erdogan.
Der aber zeigt sich offenbar weiter wenig reformwillig und so sahen weder Babacan noch Davutoglu für sich eine Zukunft in der AKP. Mittlerweile haben hunderttausende Mitglieder die Partei verlassen. Die AKP bildet aber mit knapp zehn Millionen Mitgliedern immer noch die mit Abstand stärkste politische Kraft im Land.
Chancen der neuen Parteien
So sieht Emre Erdogan, Politikwissenschaftler an der unabhängigen Bilgi-Universität in Istanbul, dann auch kaum Chancen, dass die beiden Parteineugründungen die politische Landschaft kurzfristig verändern könnten. "Die Türkei ist ein polarisiertes Land", sagt der Politikwissenschaftler. "Es gibt ein Pro-Erdogan- und ein Anti-Erdogan-Lager. Beide haben rund 50 Prozent der Stimmen. Die neuen Parteien werden der AKP innerhalb des Erdogan-Lagers Stimmen wegnehmen. Aber sie werden sich nicht auf die Seite der Opposition schlagen."
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Trotzdem könnte Bewegung ins politische System der Türkei kommen. Zwar sei das Parlament nach Umstellung auf das Präsidialsystem im vergangenen Jahr weitgehend machtlos, meint der Politikwissenschaftler. Auch sei es unwahrscheinlich, dass es den beiden Parteien von Davutoglu und Babacan bei den kommenden Parlamentswahlen gelingen könnte, die Zehn-Prozent-Hürde zu nehmen.
Demoskopen sehen das Potential für die Davutoglu-Partei bei 2-3 Prozent, für eine Babacan-Partei bei 6-8 Prozent. Sollte es ihnen jedoch gelingen, dieses Potential bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu nutzen, würde Erdogans AKP-MHP-Wahlbündnis die absolute Mehrheit verpassen und der erfolgsverwöhnte Langzeit-Herrscher müsste in einen zweiten Wahlgang.
AKP muss auf vorgezogene Neuwahlen drängen
Sollte es der Opposition gelingen, einen starken Gegenkandidaten wie den neuen Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu von der sozialdemokratischen CHP aufzubauen, könnte es spannend werden, so Emre Erdogan. Der Politikprofessor rechnet fest mit einer Neuwahl des Präsidenten vor dem bislang feststehenden Wahltermin im Jahr 2023. Würde die laufende Regierungsperiode planmäßig beendet, dürfte Präsident Erdogan nach zwei vollen Amtszeiten nicht wieder antreten.
Will die AKP jedoch an der Macht bleiben, müsse sie auf vorgezogene Neuwahlen drängen, um eine erneute Kandidatur des amtierenden Präsidenten zu ermöglichen. "Ohne Recep Tayyip Erdogan ist die AKP nichts", meint Politikwissenschaftler Emre Erdogan, "wenn er nicht mehr antritt, ist es vorbei." Und dann könnte tatsächlich die Stunde von Politikern wie Babacan und Davutoglu schlagen.