In Istanbul wird heute zum zweiten Mal der Oberbürgermeister gewählt. Der Kandidat Erdogans will sich durchsetzen. Der Oppositionskandidat hält dagegen. Viele Wähler sind sauer.
Mustafa und seine Frau Gülcen sind am Samstagnachmittag auf dem Flughafen in Istanbul gelandet. Sie haben ihren Sommerurlaub im tausend Kilometer entfernten Trabzon an der Schwarzmeerküste unterbrochen, um an diesem Sonntag den neuen Oberbürgermeister ihrer Stadt zu wählen. "Noch einmal zu wählen!", wie Gülcen leicht angesäuert hinzufügt. "Das kostet uns 200 Euro, die die Urlaubskasse belasten. Aber die Alternative wäre gewesen, diesmal nicht zu wählen. Das kam für uns erst recht nicht in Frage", sagt Mustafa. Wem sie ihre Stimme geben werden, das wollen sie nicht sagen. Aber ihr Unmut über die, auf Druck von Staatspräsident Erdogan und seiner Regierungspartei AKP angeordnete Neuwahl ist nicht zu überhören.
Kritik an Erdogan
Nicht wenige Türken, auch außerhalb Istanbuls, sehen in der Annulierung der Wahlergebnisse vom März dieses Jahres einen unverhohlenen Eingriff Erdogans in die letzten Reste demokratischer Willensbildung, die dem Land noch verblieben sind.
Ekrem Imamoglu hatte diese Wahl knapp gewonnen. Der Kandidat der republikanischen Oppositionspartei CHP. Er ließ damit nicht nur den unterlegenen Binali Yildirim schlecht ausshehen. Yildirim ist einer der bekanntesten Politiker von Erdogans AKP, langjähriger Minister und ehemaliger Regierungschef. Vor allem beschädigte die Niederlage das Ansehen Erdogans selbst. Der Präsident, der gerne alles selbst entscheidet und kontrolliert, hatte in seiner üblichen, aggressiven Art, massiv Wahlkampf für Yildirim gemacht. Und dann gewinnt die Opposition!
Imamoglu sehr beliebt
Die Gründe für diesen Sieg der CHP, die auch in anderen Großstädten wie Ankara und Izmir gewonnen hat, sind vielfältig. Die Talfahrt der Wirtschaft hat viele Bürger in Not gebracht. Die Versprechen Erdogans werden nicht mehr für bare Münze genommen, zu hoch sind Arbeitslosigkeit, Preisanstieg und Wertverlust der Lira. Doch darüber hinaus schaffte in Istanbul der besonnene, stets freundliche und als Bezirksbürgermeister erfolgreiche und beliebte Imamoglu ein Bravourstück, das bis dahin kaum vorstellbar war: Er konnte als Vertreter der CHP, der kemalistischen Partei Atatürks, Wähler aus anderen Lagern für sich gewinnen. Nationalisten, gemäßigte Konservative, vor allem aber kurdische Wähler, die von Erdogan zunehmend als Terroristen gebrandmarkt werden.
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Alles zur Abstimmung - und warum sie so wichtig ist
In Istanbul kämpfen der CHP-Politiker Imamoglu und Ex-Ministerpräsident Yildirim um den Posten des Bürgermeisters - wieder. Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Abstimmung.
An dieser Ausgangslage hat sich auch für diese Neuwahl nichts geändert. Selbst wenn der Termin, sicher nicht ganz zufällig, mitten in die Sommerferien gelegt wurde. Wohl in der Hoffnung, dass die urlaubende Mittelschicht, die den Großteil der Oppositionswähler ausmacht, am Strand liegt und sich nicht nach Istanbul aufmacht. Tausende Busse, mehr als zwei Dutzend zusätzliche Linienflüge zurück nach Istanbul allein am Samstag, lassen aber vermuten, dass die Wähler diesen Plan durchkreuzen werden.
Yildirim kämpferisch
"Umut var" - "Es gibt Hoffnung" - heißt das Wahlkampfmotto von Ekrem Imamoglu. Yildirim hält dagegen mit "Wir haben noch eine Rechnung vom März offen. Die werden wir heute begleichen!" Die Opposition befürchtet, dass Erdogan und seine AKP auch diesmal versuchen könnten, die Abstimmung in ihrem Sinne zu "begleiten". Deshalb hat die CHP mehrere Tausend Wahlbeobachterinnen und -beobachter in alle Wahllokale entsandt. Ein Team von Anwälten und Verwaltungsexperten der Partei überwacht die Auszählungen und die Ergebnisübertragung nach Ankara zur obersten Wahlbehörde, wo ebenfalls Beobachter aufpassen, das nichts "verlorengeht". Nach der überraschenden und höchst umstrittenen Annulierung der Märzwahl hat diese Wahlbehörde nicht mehr den allerbesten Ruf.