Im Land der zwei Geschwindigkeiten steht für einen Tag das Leben still. Zu Generalstreik und Protesten aufgerufen haben Vertreter aus Zivilgesellschaft, Kunst und Gewerkschaften.
Eigentlich liefert Kolumbien seit Jahren positive Wirtschaftszahlen. Das südamerikanische Land wächst langsam, dafür aber beständig. In Medellin, der zweitgrößten Metropole, sind die Menschen stolz auf den Ruf, eine besonders wirtschaftsinnovative Stadt zu ein. Nahezu wöchentlich berichtet die lokale Wirtschaftsförderung über neue Firmenansiedlungen aus dem Ausland. Die Tourismusbranche wächst, seit 2016 ist der Friedensvertrag mit der linksgerichteten Guerilla FARC, die inzwischen als Partei im Parlament sitzt, unterzeichnet. Trotzdem rumort es in Kolumbien, denn ein Großteil der Bevölkerung bekommt von den positiven Entwicklungen nichts mit. Im Gegenteil.
Das andere Kolumbien erhebt seine Stimme
Heute erhebt das andere Kolumbien seine Stimme: Tausende protestieren in Bogotá und anderen Städten gegen die Regierung. Es ist die Zivilgesellschaft, die entsetzt ist über eine nicht enden wollende Mordserie gegen Menschenrechtler, vor allem in den ländlichen Regionen. Die Friedensaktivisten, die eine Umsetzung des Friedensvertrages mit der FARC fordern, der Kolumbiens konservativer Präsident inhaltlich und persönlich kritisch gegenübersteht. Die Gewerkschaften, die auf eine fairere Bezahlung im Niedriglohnsektor pochen. Die Studenten, die bereits seit Monaten für einen freien Zugang zu den Universitäten und eine Verbesserung des Schulsystems auf die Straße gehen. Und schließlich sind da auch noch die Indigenen-Verbände, die auf die Einhaltung ihrer Rechte pochen. Sie leiden besonders unter Vertreibung, Gewalt und Umweltzerstörung.
Kolumbiens Präsident Ivan Duque versucht sich in einem Spagat. Auf der einen Seite verteidigt er das in der Verfassung verbriefte Recht auf einen friedlichen Protest, auf der anderen Seite warnt er jene Kräfte, die seiner Meinung nach die Demonstrationen unterwandern könnten. Seine Regierung lehne die Anwendung von Gewalt strikt ab. Die Sicherheitskräfte sind in Alarmbereitschaft versetzt, laut lokalen Medienberichten gibt es Hinweise auf gewaltbereite Randalierer, die die Proteste nutzen wollen. In einer Universität in Medellin wehrten sich am Vortrag der Großdemo Studenten gegen die Präsenz vermummter Demonstranten. Sie bestehen auf einem friedlichen Protest.
Der Aufruf zum Generalstreik kommt aus allen gesellschaftlichen Schichten. Die gerade erst frisch gekürte Senorita Colombia, María Fernanda Aristizabal, nutzte ihre frisch gewonnene Popularität und forderte Duque auf, den Forderungen der Marschierenden zuzuhören. Ihr Appell sorgte in den sozialen Netzwerken für Furore und wurde zehntausende Mal geteilt. Der im Land enorm populäre Grammy-Gewinner Carlos Vives sagte: "Den Marsch gibt es, damit sie nicht mehr unsere Kinder in allen Ecken unseres Landes töten. Deswegen marschiere ich. Und weil wir eine bessere Bildung für alle brauchen."
Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt
Quelle: Tobias Käufer
Die Probleme des Landes sind vielschichtig, wenngleich nicht alle hausgemacht sind. Seit gut drei Jahren sind mehr als 1,6 Millionen Flüchtlinge aus Venezuela ins Land gekommen, die vor der katastrophalen Versorgungslage und der brutalen Repression der Regierung von Präsident Nicolas Maduro geflohen sind. Sie alle verschärfen besonders im Niedriglohnsektor den Konkurrenzdruck. Zudem ist wegen der gestiegenen Nachfrage aus Europa und den USA und falscher Anreize im Friedensvertrag mit der FARC die Kokain-Produktion im Land deutlich gestiegen. Die Folgen sind brutale Machtkämpfe der Guerilla, Paramilitärs und der Kartelle um ihren Anteil am Milliardengeschäft auf Kosten der armen Bevölkerung.
Der vom deutschen Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat unterstützte kolumbianische Friedensaktivist Leyner Palacios, der im Jahr 2002 bei einem Attentat der FARC 32 Familienmitglieder verlor, bringt die Forderungen der Zivilgesellschaft vor allem aus den ärmeren Regionen des Landes auf den Punkt: "Wir brauchen Infrastruktur, Investitionen in Bildung und Arbeitsplätze und politische Teilhabe", sagt Palacios. "Wenn die Jugendlichen keine Perspektive haben, dann schließen sie sich den bewaffneten Banden, dem Drogenhandel oder dem illegalen Bergbau an."