Das SED-Regime war völlig überrumpelt von 70.000 friedlichen Demonstranten. Der 9. Oktober gilt unter Historikern als "Tag der Entscheidung" im Revolutionsherbst 1989.
Quelle: ZDF
Es hätte böse ausgehen können am 9. Oktober 1989 in Leipzig: Bewaffnete Sicherheitskräfte standen bereit und warteten nur auf einen Befehl der SED-Funktionäre, um loszuschlagen gegen jene Menschen, die sich vor den Kirchen der Stadt versammelten, um für Veränderungen im Land zu demonstrieren. Nach den Friedensgebeten schwoll die Menschenmasse in den Straßen minütlich an. Sogar Familien mit Kindern wagten sich hinaus, obwohl befürchtet wurde, dass die Partei- und Staatsführung gewaltsam gegen die Demonstranten vorgehen könnte. Am 9. Oktober 1989 herrschte "eine unglaubliche Anspannung" in der DDR.
Tag der Entscheidung
Auf 50.000 bis 60.000 Demonstranten schätzte die Staatssicherheit zunächst die Menschenmenge. Das korrigierte sie aber später nach oben auf 70.000 Menschen. Überrascht, ja überrumpelt von den Geschehnissen, entschieden die Leipziger SED-Funktionäre am frühen Abend, die 6.000 Mann starke Truppe aus Polizisten, Staatssicherheitsleuten und aus Arbeitern rekrutierte Kampfgruppen nicht einzusetzen.
Als "Tag der Entscheidung" bezeichnet der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den 9. Oktober 1989. In einem aktuellen Vortrag beschreibt er die "unglaubliche Anspannung", die an diesem Tag im ganzen Land geherrscht habe. Der Beschluss der Staatsmacht, die Leipziger Demonstration nicht gewaltsam niederzuschlagen, war ein Signal mit weitreichenden Folgen.
Zeitzeugen berichten von dem Beginn der Friedlichen Revolution in Leipzig. Der 9. Oktober 1989 wurde zum Schlüsseldatum für die deutsche und die europäische Geschichte. Das 30-jährigen Jubiläum wird in Leipzig groß gefeiert.
"Klar, dass die Revolution von nun ab friedlich verlaufen würde"
"Von diesem Tag an war klar, dass die Revolution von nun ab friedlich verlaufen würde", sagt Kowalczuk und wagt einen historischen Vergleich: "Der 9. Oktober 1989 ist im deutschen Revolutionskalender, was den Franzosen der 14. Juli 1789 bedeutet." Doch während das Pariser Volk mit der Bastille gewaltsam ein Symbol der verhassten königlichen Führung einnahm, zogen die Leipziger 1989 an der städtischen Stasi-Zentrale friedlich vorüber.
Die "Wir sind das Volk"-Rufe von der Straße waren Machtdemonstration genug. "Die Montagsdemonstrationen, allen voran die in Leipzig, waren die sichtbarsten und mächtigsten Manifestationen gegen die SED-Herrschaft. Daher bildeten sie einen besonders wichtigen Sargnagel für das Regime", erläutert Kowalczuk. Die sichtbare Kapitulation der Staatsmacht habe in den darauffolgenden Tagen und Wochen immer mehr Menschen ermutigt, "sich den Protesten gegen die SED-Diktatur anzuschließen".
Zulauf zu den Demos wurde immer größer
Wie Kowalczuk erinnert auch Jürgen Reiche, Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, daran, dass der Erfolg der Revolution in der DDR viele Ursachen gehabt habe. Nach der Fälschung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 hätten sich zunächst wenige Mutige gewagt, mit ihrem Protest voranzugehen. Reiche erinnert an eine erste Leipziger Demo im Mai 1989, mit etwa 600 Teilnehmern.
In der Folgezeit überwanden immer mehr Menschen ihre Angst vor Knüppelschlägen und Verhaftungen, der Zulauf zu den Montagsdemonstrationen in verschiedenen Städten der DDR wurde größer und immer politischer. Die Menschen demonstrierten für Reformen, Mitspracherechte, Meinungsfreiheit und schließlich "für ein Ende der SED-Diktatur", sagt Reiche. Der Historiker ist sich sicher: "Ohne Montagsdemonstrationen kein Fall der Mauer am 9. November in Berlin."
Der Funke springt über: Ein ganzes Land geht auf die Straße
Die 70.000 Demonstranten, die den Polizisten und Stasi-Leuten am 9. Oktober in Leipzig zuriefen "keine Gewalt" und "wir sind keine Rowdys", zerbrachen mit Worten und körperlicher Präsenz das DDR-Regime. Einen Tag später sendeten die ARD-Tagesthemen nach Westberlin geschmuggelte Videoaufnahmen aus Leipzig. Spätestens da wurde vielen DDR-Bürgern, die das "Westfernsehen" empfangen konnten, klar, dass die Revolution nicht mehr aufzuhalten war.
Denn eine wesentliche Botschaft dieser Bilder lautete: "Die Staatsmacht greift nicht ein, der SED-Staat kapituliert", wie es Jürgen Reiche formuliert. Zur Leipziger Montagsdemonstration am 16. Oktober kamen bereits 120.000 Menschen und in der Woche darauf 300.000. Der Funke war da längst von den Großstädten wie Leipzig auf kleinere Städte übergesprungen – und gefühlt ein ganzes Land auf der Straße.