Die USA stecken seit Jahren in einer Opiat-Krise: Vor dem Auftaktprozess auf Bundesebene einigen sich Medikamentenhändler und -hersteller nun auf einen Vergleich.
Aaron Heiser tat alles dafür, um an Schmerzmittel zu kommen. Er brauchte sein ganzes Erspartes auf. Er stahl und verkaufte den Schmuck seiner Mutter. Und zuletzt chauffierte er Dealer quer durch Ohio nach Michigan, um dann für die unentgeltliche Fahrt seine Dosis zu erhalten.
Vor seiner Sucht arbeitete Aaron als Rettungssanitäter. Nach einem Arbeitsunfall und einer Meniskus-OP wurden ihm die Schmerzmittel Percocet und Oxycontin verschrieben. Erste Entzugserscheinungen stellten sich ein, als das Rezept sechs Monate später auslief. "Eine meiner Kolleginnen sah, dass es mir nicht gut ging. Bevor ich überhaupt verstand, was los war, ist sie mit mir zum Bankautomaten und dann zu ihrer Mutter. Sie hat mir dann weitere Pillen gegeben", erzählt Aaron über seinen Weg in die Sucht.
400.000 Toten in den letzten zwanzig Jahren durch Schmerzmittel
So wie Aaron wurde mehr als eine Million US-Amerikaner durch eine medizinische Verschreibung oder die omnipräsente Verfügbarkeit von Schmerzmitteln abhängig. Die Überschwemmung mit Opiaten führte zu 400.000 Toten in den vergangenen zwanzig Jahren. Tausende Familien wurden zerrissen, Eltern das Sorgerecht entzogen, Drogen-Babys geboren. US-Kleinstädte mussten den Verlust von Arbeitskräften hinnehmen und Gefängnisbetten aufstocken.
Für die zerstörerischen Folgen soll nun die Pharma-Industrie zur Verantwortung gezogen werden. Jahrelang haben Firmen wie Purdue und Johnson & Johnson das Suchtpotential ihrer Produkte verheimlicht oder heruntergespielt. Ihr aggressives Marketing soll dazu beigetragen haben, dass Ärzte ohne großes Zögern Rezepte verschrieben und sogenannte Pill Mills (Pillen-Mühlen) entstanden, die die Schmerzmittel an Süchtige weitergeben.
Vorwurf gegen die Hersteller: Störung der öffentlichen Ordnung
Diesen Montag hätte das bisher größte und erste bundesbehördliche Verfahren gegen die Pharma-Industrie starten sollen. Zumindest im Falle zweier Bezirke kam es Stunden vor dem Beginn des Prozesses zu einer Einigung. Doch insgesamt sollen 2.300 Klagen nach und nach gegen Hersteller, Händler und Apotheken vorgebracht werden. Der Vorwurf: Sie hätten durch die Flut an Schmerzmittel die öffentliche Ordnung gestört. Mit demselben Argument hatte im August der Bundesstaat Oklahoma dem Opiate-Hersteller Johnson & Johnson 572 Million Dollar abgerungen.
Hinter den Kulissen haben die angeklagten Firmen bis zur letzten Minute an einem Vergleich gearbeitet um ein langwieriges Verfahren und einen für sie noch kostspieligeren Ausgang zu vermeiden. Montagfrüh wurde bekannt, dass sich alle Angeklagten bis auf Walgreens einigen konnten. Die Händler AmerisourceBergen, Cardinal Health and McKessen und Hersteller Teva müssen nun 235 Millionen Dollar an zwei Bezirke zahlen.
Purdue: Insolvenz aus taktischen Gründen
Purdue, der prominenteste Hersteller von Opiaten, meldete aus taktischen Gründen schon im September Insolvenz an und ist bereit, bis zu 12 Milliarden Dollar an Entschädigung zu zahlen. Wieviel davon aus dem Privat-Vermögen der Familie Sackler, die Inhaber von Purdue, kommen soll ist noch unklar.
Die Summe, die an die Geschädigten gezahlt wird, ist trotzdem nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Allein von 2015 bis 2018 hat die Krise die US-Wirtschaft 631 Milliarden Dollar gekostet, wie eine kürzlich veröffentlichte Studie der "Society of Actuaries" zeigt. In diesem Jahr sind die Kosten explodiert, es wird mit einer Summe von 171 bis 214 Milliarden Dollar gerechnet. Darin enthalten ist auch das entgangene Einkommen für jene, die durch eine Überdosis frühzeitig verstorben sind.
Betroffene wollen Firmenchefs haften sehen
Der entscheidende Faktor für viele Prozessbeobachter ist, wieviel Geld letztendlich bei den Betroffenen ankommt und unter welchen Auflagen. "Als gegen die Tabakindustrie geklagt wurde, gingen nur drei Prozent in die Behandlung, Vorsorge und Prävention der Zigarettensucht", gibt Beth Macy zu Bedenken. Die Journalistin hat für ihr auf Deutsch erschienenes Buch "Dopesick" jahrelang Familien in Virginia und West Virginia in ihrem Alltag mit den Drogen begleitet. "Meine Hoffnung ist, dass der Prozess der Öffentlichkeit klarmacht, dass die Betroffenen keine Kriminellen und Versager sind. Viele unter ihnen waren zuerst nur Patienten."
Für Aaron Heiser kommt es weniger auf die Summe an. Er will, dass die CEOs und Firmenchefs persönlich für ihr Vorgehen haften: "Ich will sie im Gefängnis sehen. Wenn ich Schmerzpillen auf der Straße verkaufen würde, wäre ich auch hinter Gittern. Warum also nicht auch die, die diese Krise auf höchster Ebene verursacht haben?"