Tag der Entscheidung: Sieben Millionen Tunesier sind heute aufgefordert, in der Stichwahl einen neuen Präsidenten zu wählen. Die Kandidaten: Ein Unabhängiger und ein Medienmogul.
Es ist das Ende eines Politkrimis: Zwei krasse Außenseiter, der pensionierte Juraprofessor und Verfassungsrechtler Kais Saied und der schillernde Medienmogul Nabil Karoui stehen sich gegenüber. Karoui, der wegen Verdachts auf Geldwäsche in Untersuchungshaft saß, wurde am vergangenen Mittwoch überraschenderweise freigelassen - er hatte gedroht, die Wahlen für ungültig erklären zu lassen. Und der als unbestechlich geltende Saied hatte angekündigt, seinen Wahlkampf wegen genau dieser Schieflage - ein Kandidat im Gefängnis - zu unterbrechen.
Debatte in den sozialen Netzwerken
Nun standen sie sich also kurz vor der Stichwahl in einem Fernsehduell gegenüber. Die Debatte wurde in fast allen Cafés in Tunis übertragen, das Interesse vor allem der jungen Leute war groß. Die Debatte über die Chancen des einen oder des anderen, sie fand in den sozialen Netzwerken statt. Karoui habe müde gewirkt, fast abwesend. Said sei präsenter gewesen. Doch seine Antworten seien vage gewesen, vor allem bei den Themen Terrorismus und unabhängige Justiz. Da habe Karoui ein pragmatisches wirtschaftliches Programm für die Zukunft vorgelegt: Einführung neuer Technologien, Lösungen für die Wirtschaft, schnellere Bezahlung der Arbeiter. Das Interesse war groß, doch konnte einer der beiden Kandidaten überzeugen?
Entscheidend wird die Wahlbeteiligung sein. Sie war beim ersten Wahlgang mit 45 Prozent extrem niedrig, bei den Parlamentswahlen lag sie sogar nur bei 41 Prozent. Und immer mehr Tunesier fordern in den sozialen Netzwerken dazu auf, einen leeren Stimmzettel abzugeben. Das Vertrauen in die Politik und ihre Vertreter ist dramatisch gesunken seit dem Arabischen Frühling von 2011. 80 Prozent der Bürger haben kein Vertrauen mehr in die Parteien und ihre Vertreter. Arbeitslosigkeit, Bürokratie und vor allem Schattenwirtschaft und Korruption haben die Tunesier zermürbt. Sihem Bensedrine, die die Kommission für Wahrheit und Würde, die die Verbrechen der Ben Ali Zeit aufdecken sollte, geleitet hat, nimmt kein Blatt vor den Mund." Unter Ben Ali hatten wir ein Mafia System, nichts passierte wirtschaftlich in Tunesien, ohne dass Ben Ali nicht seinen Anteil bekam. Heute ist dieser Pate zwar nicht mehr da, aber seine ehemaligen Anhänger haben seinen Platz eingenommen. Noch nie war die Mafia so stark wie heute."
Spitzname Robocop
Dem Medienunternehmer Karoui wird immer wieder Korruption vorgeworfen. Letztes Beispiel: laut Unterlagen des amerikanischen Außenministeriums soll er für eine Million Dollar eine Beraterfirma beauftragt haben, für ihn ein Treffen mit US-Präsident Trump und dem russischen Präsidenten Putin zu organisieren. Karoui streitet das vehement ab. Und auch der Vorwurf der Geldwäsche ist nicht vom Tisch. Doch sollte Karoui am Sonntag gewählt werden, genießt er für die Dauer seiner Amtszeit Immunität. Dank seines Fernsehsenders Nessma TV ist er bekannt: seine Reisen durch die vernachlässigten Gebiete Tunesiens, seine Wohltaten für die arme Bevölkerung - das alles wurde natürlich im eigenen Sender übertragen. Sein Spitzname: der Berlusconi Tunesiens.
Der Spitzname des anderen Kandidaten: Robocop - Kais Saied hat auf Wahlkampfveranstaltungen verzichtet, er setzte auf Treffen in Cafés, auf Tür-zu-Tür Wahlkampf. Fast mönchisch wirkt er, spricht monoton wie ein Computer ohne das Gesicht zu verziehen. Saied gilt als "sauber". 38 Prozent seiner Wähler im ersten Wahlgang waren unter 39 Jahre alt, fast alle haben einen Universitätsabschluss. Sein Programm, nationalistisch, konservativ: Homosexualität soll verfolgt werden, die Gleichsetzung von Mann und Frau in Erbangelegenheiten abgeschafft werden.
Etablierte Parteien wurden abgestraft
Es ist nicht sicher, ob Said seinen knappen drei Prozent Vorsprung aus dem ersten Wahlgang verteidigen kann. Mitte September hatten 18,4 Prozent der Wähler für ihn gestimmt, 15,6 Prozent für Karoui. Die Vertreter der etablierten Parteien wurden abgestraft, und auch bei den Parlamentswahlen Anfang Oktober haben die Tunesier dem Polit-Establishement eine fulminante Abfuhr erteilt. Selbst die bis dahin im Parlament herrschende islamistische Ennahda Partei verlor Stimmen. Sie ist zwar immer noch die stärkste Partei doch sie stellt nur noch 52 der 217 Abgeordneten. Die Partei des Medienunternehmers Karoui, "Herz Tunesiens", kam auf Anhieb auf 38 Prozent.
Egal wer von den beiden das Rennen für sich macht - in der politischen Landschaft Tunesiens ist nach der Pulverisierung der traditionellen Parteien nichts so geblieben, wie es war. Und die wirkliche Bewährungsprobe fängt erst an: Wer koaliert mit dem? Im Moment ist das Parlament total zersplittert, alle Parteien von rechts außen bis extrem links sind sich spinnefeind, keiner will mit keinem koalieren, auch wenn die islamistische Ennahda Partei ihre Anhänger aufgefordert hat, für den Juraprofessor zu stimmen - die Partei Karouis lehnt eine Zusammenarbeit mit Ennahda ab.
Schreckgespenst der Unregierbarkei
Der nächste Präsident wird also vermutlich keine Mehrheit im Parlament haben. Laut Verfassung wird - egal ob Saied oder Karoui an der Spitze des Staates stehen - Ennahda, als stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus -aufgefordert, einen Premierminister zu stellen. Der hat dann zwei Monate Zeit, eine Regierung zu bilden - dafür braucht er eine Mehrheit von 109 Stimmen. Gelingt das nicht, muss sich ein anderer Kandidat an einer Regierungsbildung und Mehrheit versuchen - und bleibt die Regierungsbildung vier Monate erfolglos, muss der Staatspräsident das Parlament auflösen und Neuwahlen ausschreiben.
Das Schreckgespenst der Unregierbarkeit hängt wie ein Damoklesschwert über Tunesien. Ein politischer Kommentator des tunesischen Radios meinte." Wir erleben gerade das Szenario eines Sciencefiction Filmes." Und die Zeitschrift "Jeune Afrique" titelt: "Teil zwei der Revolution."