Quellenfunde und Zeitzeugnisse sprechen für eine große noch unbekannte Untertage-Anlage bei Linz in Österreich. Gab es dort neben geheimer Waffenproduktion ein unterirdisches KZ?
Vor bald 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich befreit, heute ist es ein bekannter Erinnerungsort. Doch nicht weit davon entfernt, bei St. Georgen, nahe Linz, befreiten die Amerikaner auch die weit weniger bekannten KZ-Anlagen Gusen I, II und III. Ein Komplex von Arbeitslagern und unterirdischen Stollen - auch für streng abgeschirmte Rüstungsprojekte. Die US-Einheiten fanden hier besonders schreckliche Zustände vor. Tausende von Toten, Menschen, nur noch bestehend aus "Haut und Knochen".
Neue Indizien für "geheimste Unterwelt"
Bei Recherchen für den Film "Die geheimste Unterwelt der SS" sind ZDF-Autoren auf bislang unbekannte Fotos, Dokumente und Zeitzeugen gestoßen, die dafür sprechen, dass die unterirdischen Anlagen bei St. Georgen an der Gusen wesentlich größer waren als bislang angenommen. Was aber geschah in den offenbar noch unbekannten Unterwelten? Was wurde dort produziert oder später womöglich eingelagert? Unter welchen Bedingungen mussten Häftlinge dort Zwangsarbeit leisten? Zu all diesen Aspekten gibt es neue Indizien, die bisherige Annahmen in Frage stellen.
Zunächst zur Größe der Anlage: Das bekannte Untertagewerk bei St. Georgen an der Gusen trägt den Namen "Bergkristall" (der frühere Tarnname); es ist nach aktuellem Forschungsstand etwa acht Kilometer lang und einstöckig, diente vor allem der Fertigung von Messerschmitt-Düsenjägern. Daneben gibt es noch ein kleineres Stollensystem namens "Kellerbau". Die amerikanische Luftbildauswertung kommt im Frühjahr 1945 jedoch zu dem Schluss, dass es um Gusen und St. Georgen weitaus mehr größere Tunnelanlagen gibt.
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Robert Zellermann, ein international renommierter Experte für militärische Altlasten, einst Unscom-Inspekteur für ABC-Waffen im Irak, hat anhand von Luftaufnahmen den Aushub der Untertage-Werke stereographisch analysiert, schätzt die Länge der Tunnel-Systeme aufgrund der ausgehobenen Mengen auf etwa 30-40 Kilometer. Von einer solchen Größenordnung spricht auch der bei Kriegsende noch jugendliche Zeitzeuge Walter Chmielewski (Sohn eines ehemaligen Lagerkommandanten von Gusen). Auch ein Bericht des Geheimdienstchefs der US-Luftstreitkräfte in Europa, General McDonald, von Begehungen vor Ort (vom November 1945) enthält Längen-Angaben von bis zu 26 Kilometern.
Ein Nachkriegsdokument aus dem "Bundesministerium für Handel und Wiederaufbau" in Wien, zur "Erfassung ehemaliger Luftschutzbauten", nennt mit Blick auf St. Georgen und Gusen von zwei Stollenanlagen von 16 bzw. 24 Kilometern Länge. Besonders bemerkenswert sind die Fotos aus der Sammlung eines Mitarbeiters eines an den Bauten beteiligten Ingenieurbüros, die deutlich eine mehrstöckige Struktur zeigen, was wiederum Geoelektrik-Untersuchungen bestätigen.
Geheimwaffen-Entwicklung unter Tage
Doch wie wurden die Stollen genutzt - neben der bereits bekannten Produktion von Messerschmitt-Düsen-Flugzeugen? US-Dokumente und Lieferprotokolle sprechen dafür, dass unter Tage auch Raketen entwickelt bzw. gefertigt wurden. Auch von chemischer und nuklearer Forschung ist die Rede. Hitlers Geheimwaffenchef, SS-General Hans Kammler, der bei Kriegsende wichtige Sonderwaffenprojekte koordinierte und Zugriff darauf hatte, wird in alliierten Geheimdienst-Berichten mehrmals im Kontext so genannter "ABC-Waffen" genannt. Viele registrierte Bahn-Lieferungen nach St. Georgen - auch von anderen Sonderwaffen-Standorten - waren direkt an ihn adressiert.
Was die Situation der Häftlinge betrifft, ist bislang von drei oberirdischen Lagern die Rede, Gusen I, II und III. Quellenfunde deuten darauf hin, dass offenbar auch eine unterirdische Unterbringung erfolgte. Professor Johannes Preuß, Gutachter und Altlasten-Experte von der Universität Mainz, hat in Archiven Unterlagen zum Standort St. Georgen entdeckt. Sie legen die Vermutung nahe, dass aufgrund der Zielvorgabe, eine bombensicheren Produktion zu gewährleisten, von vornherein auch eine unterirdische Unterbringung geplant war.
Einer der Baupläne zeigt "Bergkristall" als Doppelstruktur, mit zweigeteilten Tunneln. Ein technischer Befund der Studiengesellschaft für Atomenergie aus dem Jahre 1968 berichtet von "übereinander liegenden Stollen". In einem US-Dokument ist von einem "underground camp St. Georgen" die Rede, an anderer Stelle von einem "secret camp". Ein KZ-Häftling, der den Krieg überlebte, spricht in einem Interview von einem "Lager, das unter der Erde war".
Unterirdisches Konzentrationslager?
Zeitzeuge Walter Chmielewski gebraucht einen Begriff, der noch weiter geht: "unterirdisches KZ" - und spricht von einer Anlage mit mehr als 18.000 Häftlingen. Seine Ortsangabe wurde überprüft. Für Luftbildexperte Robert Zellermann sind auf den Fotos des angegebenen Areals mehr als ein Dutzend Luftschächte zu erkennen. Bodenanalysen mit Hilfe der Geoelektrik scheinen die Existenz einer Anlage zu bestätigen. Expertin Birgit Kühnast spricht von "anthropogenen", also menschengemachten, rechteckigen Strukturen in "einer Länge und Breite von 130 mal 150 Metern".
Auf den Luftbildern kurz vor Kriegsende gibt es allerdings keine Hinweise mehr auf die vermuteten Stollen. Die Erdoberfläche wurde in diesem Bereich regelrecht planiert. Aber was heißt das? Wurden hier womöglich Spuren verwischt - am Ende gar auch die eines Verbrechens? Das halten jedenfalls Mitglieder des "Gusen-Gedenkdienstkomitees" für möglich.
Die Vorsitzende, Martha Gammer, fand in Bad Arolsen - im weltweit größten Archiv über die Opfer und Überlebenden des NS-Regimes - Dokumente, die verstören: Im April 1945 verschwinden von einem Tag auf den anderen 18.500 Häftlinge aus einer Bestandsliste der Rüstungsproduktion in St. Georgen. "Was ist mit diesen Menschen geschehen", fragt Gammer im Film, "Auf jeden Fall bestand der Befehl, dass besonders die Wissensträger nicht in die Hände der Alliierten fallen dürfen".
Laut offiziellen Angaben wurden mindestens 71.000 Menschen aus ganz Europa in das KZ Gusen deportiert, etwa 36.000 überlebten nicht. Sind damit alle Opfer erfasst? Die Suche nach Antworten hat erst begonnen.
Die von Österreichern und Deutschen - mit Unterstützung aus Polen, Tschechien, Frankreich und den USA erstellte Dokumentation dient vor allem dem Ziel, dass unter Einbeziehung internationaler Experten weitere Forschungen angestoßen und vorgenommen werden. Es gibt noch viele Fragen zu diesen beklemmenden und denkwürdigen Standorten zu klären.
Stefan Brauburger ist Leiter der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte.
Der Text entstand in Zusammenarbeit mit Professor Stefan Karner, Historiker, Universität Graz, Gründer und ehemaliger Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, und Dr. Matthias Uhl, Deutsches Historisches Institut, Moskau.