Der Angriff auf ein ukrainisches AKW weckt Sorgen vor einer Kernschmelze und einem atomaren Gau wie in Tschernobyl oder in Fukushima. Welche Gefahr besteht aktuell?
Die russische Armee hat Europas größtes Atomkraftwerk im ukrainischen Saporischschja angegriffen und dort einen Brand ausgelöst. Nach Behördenangaben brach in einem Gebäude in der Nacht ein Feuer auf – im ganzen Land gehen die Kämpfe weiter.
Die russische Armee hat Europas größtes Atomkraftwerk im ukrainischen Saporischschja angegriffen und dort einen Brand ausgelöst. Nach Behördenangaben brach in einem Gebäude für Ausbildungszwecke in der Nacht zum Freitag Feuer aus, die Reaktorblöcke waren jedoch nicht betroffen. Am Morgen wurde gemeldet, dass das Feuer mittlerweile gelöscht ist. Ist die Gefahr damit gebannt?
Wie ist der aktuelle Stand im AKW Saporischschja?
Nach Informationen der ukrainischen Atomüberwachungsbehörde ist das AKW Saporischschja aktuell in der Hand russischer Streitkräfte. Das Personal arbeite weiterhin an seinen Arbeitsplätzen, das Betriebspersonal überwache den Zustand von Aggregaten und stellt deren Betrieb gemäß den Anforderungen der Prozessabläufe für einen sicheren Betrieb sicher. Begehungen werden auch durchgeführt, um eventuelle Schäden auf der Baustelle zu identifizieren.
- Block 1 des AKW ist demnach ausgefallen.
- Die Blöcke 2 und 3 wurden vom Netz getrennt, werden aber gekühlt.
- Block 4 ist mit einer Leistung von 690 Megawatt in Betrieb.
- Die Einheiten 5 und 6 werden heruntergekühlt.
Bisher wurde rund um das Kraftwerk keine erhöhte Strahlenbelastung registriert. Laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) wurde keiner der sechs Reaktoren beschädigt, auch die Sicherheitssysteme seien nicht betroffen. Aktuell werden alle Türme noch gekühlt.
Welche Gefahr geht vom AKW noch aus?
Das Problem mit der Kernenergie ist: Auch wenn die Reaktoren nicht in Betrieb sind, müssen sie gekühlt werden. Die ukrainische Behörde warnt vor einer Katastrophe: Der Verlust der Möglichkeit, Kernbrennstoff abzukühlen, würde zu erheblichen radioaktiven Freisetzungen in die Umwelt führen.
Diese Risikoeinschätzung teilen auch westliche Atomexperten: "Ohne Kühlung wird es eine Kernschmelze geben - genau das, was 2011 in Fukushima passiert ist", schreibt der Physiker James M. Acton, Direktor des US-Thinktanks Carnegie Nuclear Policy auf Twitter.
In der Ukraine haben russische Truppen in der Nacht Europas größtes Atomkraftwerk beschossen. "Ich glaube nicht, dass es intentional geplant war, den Reaktor in die Luft zu jagen", so Politikwissenschaftler Carlo Masala (Universität Bundeswehr München).
Auch David Fletcher, Professor an der School of Chemical and Biomolecular Engineering der Universität von Sydney, teilt diese Einschätzung:
In Fukushima hatte das Erdbeben das Atomkraftwerk von der äußeren Stromversorgung abgeschnitten, der folgende Tsunami hatte dann die Notstromversorgung geflutet, die Brennstäbe konnten daher nicht mehr gekühlt werden. So kam es zur Kernschmelze.
Die Kampfhandlungen rund um das Atomkraftwerk bergen ebenfalls die Gefahr, dass die Notstromversorgung - die hauptsächlich aus Dieselgeneratoren besteht - zerstört wird, und damit die Möglichkeit zur Kühlung entfällt.
Gibt es einen Unterschied zu den Reaktoren in Tschernobyl und Fukushima?
Eine kleine Entwarnung gibt dabei der australische Nuklearexperte Toni Irwin: Die sechs Kernreaktoren in Saporischschja seien keine Reaktoren wie die in Tschernobyl. Im Gegensatz zu denen in Tschernobyl haben sie eine Eindämmung aus Stahl und Beton um den Reaktor herum, um jede radioaktive Freisetzung zu stoppen. Dieses sogenannte Containment ist darauf ausgelegt, einen Flugzeugabsturz auf den Reaktor auszuhalten. Im Gegensatz zu Fukushima haben die Reaktoren zusätzliche Kühlsysteme, um ein Schmelzen des Kerns zu verhindern.
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Trotzdem bestehe weiter Gefahr, meint der Physiker Moritz Kütt vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik gegenüber ZDFheute: Sollte es zu einer Kernschmelze kommen, könne der Schutzmantel die Explosion nur verzögern. Um sie zu verhindern, müsse Druck abgelassen werden, und dabei würde eine Menge Radioaktivität freigesetzt.
Als zusätzliche Gefahr sieht Kütt alte Brennstäbe, die noch in der Nähe des Kraftwerks zwischengelagert werden. Diese sind zwar auch in geschützten Behältern gelagert, bei einem Angriff, Feuer oder einer Explosion könne jedoch eine ähnliche Strahlung freigesetzt werden wie nach dem Unglück von Tschernobyl.
2018 macht der Autor sich auf den Weg in die Unglücksregion in Tschernobyl. Dort sind die Spuren der Atom-Katastrophe immer noch spür- und messbar.
Wie viele AKW gibt es in der Ukraine?
In der Ukraine gibt es 15 Atomreaktoren. Nicht alle haben die moderneren Schutzhüllen wie das nun angegriffene Kraftwerk in Saporischschja. Das bekannteste ist das Kraftwerk in Tschernobyl, etwa 110 Kilometer nördlich der Hauptstadt Kiew. Dort kam es 1986 zur katastrophalen Kernschmelze. Das Gebiet ist bis heute nicht bewohnbar.
Welche Maßnahmen werden in Deutschland empfohlen?
Seit einigen Tagen gibt es auch in Deutschland Berichte, dass Menschen Jodtabletten auf Vorrat kaufen. In einigen Apotheken sind sie bereits ausverkauft.
Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) rät von einer selbstständigen Einnahme von Jodtabletten weiterhin dringend ab. Eine Selbstmedikation mit hochdosierten Jodtabletten birgt erhebliche gesundheitliche Risiken, habe aktuell aber keinen Nutzen.
Sollte es doch in der Zukunft nötig werden, werden in Deutschland 189,5 Millionen Jodtabletten in den einzelnen Bundesländern vorgehalten. Diese werden dann - im Fall der Fälle - in den möglicherweise betroffenen Gebieten durch die Katastrophenschutzbehörden verteilt. Zur Einnahme werden die entsprechenden Personengruppen durch die Katastrophenschutzbehörden explizit aufgefordert.
Erste Maßnahmen des Katastrophenschutzes werden ab einer Strahlenbelastung von 1 Millisievert ergriffen. Mit eine derartigen Strahlung wird in Deutschland aktuell nicht gerechnet, das größere Risiko besteht für Russland, da der Wind meist aus Westen kommt und verstrahlte Partikel mit großer Wahrscheinlichkeit nur nach Osten getragen würden.
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