Ein Jahr Krieg - vier Ukrainer berichten, wie es ihnen geht

    Wie Ukrainer im Krieg leben:Angst vor der Front - Ukrainer im Krieg

    Jenifer Girke
    von Jenifer Girke
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    Angst vor der Einberufung, geplatzte Träume, Wut auf Putin und Freude über die Rückkehr nach Charkiw: Die Menschen in der Ukraine gehen unterschiedlich mit zwölf Monaten Krieg um.

    Ukrainische Flagge weht vor zerstörtem Haus, Borodianka 15.02.2023
    Nach einem Jahr Krieg in der Ukraine liegen viele Gebäude in Schutt und Asche. Wie gehen die Menschen mit den Trümmern in ihrem Leben um?
    Quelle: Reuters

    Die Angst vor dem Einberufungsbescheid 

    Ihor Doshyn ist einer der Überlebenden des russischen Angriffs auf den Bahnhof in Kramatorsk. Er und seine Verlobte Katya saßen am 8. April im Zug an einem der Gleise, als eine russische Rakete einschlug. Vor ihren Augen starben mehr als 50 Menschen. Von Kramatorsk sind sie nach Lemberg geflohen. Eine große Sorge von Ihor: als Soldat in den Krieg ziehen zu müssen. 

    Wenn nicht heute, dann werde ich morgen den Einberufungsbescheid bekommen. Früher oder später werden alle, absolut alle gezwungen sein, etwas Schweres durchzumachen. 

    Ihor Doshyn, Geflüchteter in Lemberg    

    Der 31-Jährige zeigt mir einen kleinen Kellerraum, in dem er täglich bis zu neun Stunden Online-Bestellungen verpackt. Hauptsache Geld verdienen. Denn: Er möchte sein Land unterstützen, aber nicht an der Front: "Ich spende Geld für die Streitkräfte der Ukraine. Ich bin nützlich für mein Land, bezahle die Steuern." Durch die Steuern wird auch die Armee versorgt - je mehr Geld an sie geht, desto schneller kommt der Sieg, so seine Hoffnung.  
    Ihor und seine Verlobte planten ein Leben im Ausland. Nun sitzen sie seit 12 Monaten in Lemberg fest. Als Mann darf Ihor nicht ausreisen und Katya will nicht ohne ihn leben. "Unsere Pläne haben sich radikal verändert. Ich habe meiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht und wir wollten im Sommer heiraten. Alles für die Katz", erzählt mir Ihor traurig. 

    91-Jährige in Borodjanka: "Was können die Kinder dafür?" 

    In einem kleinen Gemeinderaum in Borodjanka, 60 Kilometer von Kiew entfernt, treffen sich Einwohner der Stadt, um Tarnnetze für die Armee zu flechten. Auch Olgha Grizak macht mit. Sie ist 91 Jahre alt, war früher Russisch-Lehrerin in einer Schule: "50 Jahre habe ich die Kinder unterrichtet, ihnen beigebracht, klug, weise und gütig zu sein. Ich habe auf ein glückliches Ende gehofft." 
    Olgha hat den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt. Dass Kinder jetzt durch Angriff von Russlands Präsident Wladimir Putin ein solches Elend erleben müssen, macht sie wütend.

    Wofür werden die Tränen von Tausenden Kindern vergossen? Was können die Kinder dafür? Reicht ihm Russland nicht? Kann dieses russische Land ihm nicht im Halse steckenbleiben? 

    Olgha Grizak, Einwohnerin von Borodjanka 

    Am 1. März 2022 schlugen drei Bomben in ihre Wohnsiedlung. Sie musste sofort raus, konnte nichts mitnehmen, selbst ihre Dokumente hat sie zurückgelassen. Ihr Haus ist nur wenige Kilometer vom Gemeinderaum entfernt, aber als sie mir ihre Wohnung zeigen möchte, wird sie aufgehalten. Das Haus ist einsturzgefährdet, kann nur noch abgerissen werden.  
    Anfang der 1970er Jahre ist Olgha eingezogen, sie war einer der ersten Bewohnerinnen - und wollte nie wieder woanders leben.  
    Was haben Ukrainer und Ukrainerinnen während des letzten Jahres erlebt? Wo sind sie heute und wie geht es ihnen? Katrin Eigendorf und Jenifer Girke haben einige von ihnen über zwölf Monate lang begleitet - die ganze auslandsjournal-Dokumentation sehen Sie hier:
    Soldat
    Verzweiflung, Wut, Hoffnung, Euphorie - Katrin Eigendorf und Jenifer Girke haben Menschen in der Ukraine seit Kriegsbeginn begleitet. Wie geht es den Ukrainern nach diesem Jahr? 15.02.2023 | 43:29 min

    Kind flieht aus russischer Besatzung - Eltern bleiben zurück 

    Viele Ukrainer harrten monatelang unter russischer Besatzung aus - so auch in Cherson. Die Stadt liegt nahe der Front, jeden Tag gibt es Explosionen. Laut der ukrainischen Militärpressestelle sind von 280.000 Einwohnern nur noch 60.000 geblieben - so auch Vladislav und Olena Kolomyichenko. 
    Sie zeigen mir ihren selbst gebauten Unterschlupf im Wohnzimmer, hier haben sie zwei Monate lang geschlafen. Vladyslav erklärt die Konstruktion: "Oben liegen Blechtafeln. Das war mal unser Metalltor im Garten. Das war für den Fall, dass wenn die Decke runterfällt, wir nicht verschüttet werden." Am Haus haben sie Überwachungskameras angebracht, um die russischen Besatzer zu beobachten:

    Sie fuhren die Straßen entlang. Das war sehr unheimlich. Als ob man in deinem Haus mit schmutzigen Stiefeln herumläuft.

    Olena Kolomyichenko, Einwohnerin von Cherson

    Ihre Tochter Kateryna ist im Mai geflohen, zu ihrem Freund nach Dänemark. Sie zeigen mir Katerynas Zimmer. Das Bett ist bezogen, alles aufgeräumt, es sieht aus, als ob sie jederzeit zurück käme. Über ihre Tochter zu sprechen, fällt ihnen schwer, die Sehnsucht nach dem einzigen Kind schmerzt. 
    Am 11. November wurde Cherson von der ukrainischen Armee befreit. Doch sicher fühlen sich die beiden nicht: "Gestern, als ich draußen war, hörte ich die Granaten über mir. Irgendwo in unserem Viertel sind sie eingeschlagen. Das macht mir große Angst", erzählt Olena. Ihr Trost: zu wissen, dass ihre Tochter in Sicherheit ist. 
    Eine Wand mit Fotos der vermissten Kinder
    In Cherson verschwinden Kinder. Auch in anderen Orten der Ukraine werden Kinder vermisst. "ZDFzoom" zeigt, wie Russland viele von ihnen verschleppt hat und welche Strategie Putin damit verfolgt.23.02.2023 | 43:59 min

    "Endlich wieder zu Hause" - die Freude der Rückkehrerin 

    Ärztin Oksana Mykhalchuk ist zurückgekommen, zurück nach Charkiw im Osten der Ukraine. Die Stadt ist immer wieder Ziel russischer Angriffe. Mehrere Monate verbrachte die Ärztin in Deutschland, hätte sich dort als Radiologin eine Karriere aufbauen können, doch die Sehnsucht nach ihrer Heimat war zu groß. 
    Wir treffen uns an ihrer zerstörten Wohnung. Gespannt geht sie das Treppenhaus hoch, schließt die Tür zur Wohnung auf - das erste Mal seit ihrer Rückkehr. Ein paar Fenster wurden repariert, die Heizung funktioniert, aber sonst liegt alles in Trümmern.  

    Überall waren solche Splitter, sie sind bis zum Schrank geflogen und haben sich durch die Kleidung gebrannt. Ein Wunder, dass das Haus nicht abgebrannt ist.

    Oksana Mykhalchuk, Einwohnerin von Charkiw 

    Wäre Oksana zu dem Zeitpunkt zu Hause gewesen, hätte sie wohl nicht überlebt. Die 45-Jährige lässt sich von der Zerstörung nicht entmutigen. Ihr Ziel: ihre Wohnung, ihr Land wiederaufbauen.  

    Ich freue mich, dass ich zurück in meinem Leben bin. Wir wissen zwar nicht, was morgen passiert, aber für mich ist es ein wunderbares, neues Kapitel.

    Oksana Mykhalchuk, Ärztin aus Charkiw

    Draußen zeigt mir Oksana ihre zerstörte Nachbarschaft, Hochhäuser liegen in Schutt und Asche. Jederzeit könnten hier wieder Raketen einschlagen. Das weiß Oksana. Doch wieder zu Hause zu sein, sei wichtiger, als in Sicherheit zu sein.  



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    Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.
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