Die Alpengletscher ziehen sich in Rekordtempo zurück. Das verändert das Landschaftsbild, aber es kommt auch ein gefährlicher Prozess in Gang: Neue Gletscherseen entstehen.
Die Hitze lässt Gletscher viel schneller als bisher hochgerechnet schmelzen. Eine dramatische Entwicklung: Lose Felsbrocken gefährden Menschen, die Artenvielfalt wird verdrängt.
Nie zuvor haben sich die Alpengletscher so schnell zurückgezogen wie in den vergangenen 30 Jahren. Im Zuge des Klimawandels kommt es immer häufiger vor, dass im Winter zu wenig Schnee fällt und die Gletscher nicht mehr genug nähren.
Steigen dann im Frühsommer die Temperaturen ungewöhnlich hoch an, verlieren die Gletscher schnell an Masse, selbst in 3.000 Metern Höhe. Allein der Jamtal-Gletscher im Silvretta-Gebirge zieht sich pro Jahr mindestens 20 Meter zurück.
Mit den Gletschern verschwinden Geheimnisse aus unserer Vergangenheit.
Gletschereis verliert auch extrem an Höhe
"Die Schmelze des Jahres 2022 übertrifft alle bisherigen Messwerte um das Zwei- bis Dreifache", sagt Glaziologin Andrea Fischer. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit der Glazialforschung, also Gletscherforschung. Sie beobachtet permanent das Verhalten der Gletscherbewegung und stellt fest:
Die renommierte Wissenschaftlerin von der Österreichischen Akademie (ÖAW) stellt zudem einen regelrechten Zerfall der Alpengletscher fest. Wo früher weiß glänzende Eismassen die Fläche bedeckten, finden sich inzwischen Steinwüsten.
Neue Seen in freigelegten Gletschermulden
Und die Glaziologin stellt noch etwas fest: "Es entstehen fast täglich neue Seen, allerdings sind die meistens sehr klein und werden rasch wieder mit Sediment verfüllt werden". Seit dem Gletscherhochstand von 1850 haben sich im Alpengebiet über 1.000 neue Seen dauerhaft etabliert.
- Saharastaub lässt Gletscher schmelzen
2022 zeichnet sich als Rekordjahr für die Schmelze deutscher Gletscher ab. Hauptgrund: Rot-brauner Saharastaub, der die schützende Schneedecke früher schmelzen lässt.
So entstehen die Seen: Ein intakter Gletscher reißt beim talwärts Fließen Felsstücke aus dem Untergrund heraus und zieht diese mit sich. Dadurch entstehen Mulden. Führen die ungewöhnlich hohen Temperaturen in den Höhenlagen der Alpen zum Gletscherrückzug, werden die Mulden freigelegt. In ihnen staut sich schließlich das Schmelzwasser. Für Gesteins- und Gletscherforscher ist die rasche Bildung neuer Gletscherseen ein sichtbarer Beweis für den Klimawandel.
Gefahr von Felsabgängen und Steinschlag nimmt zu
Die Neubildung von Gletscherseen wird noch durch einen weiteren Aspekt begünstigt: Wo der Gletscher sich zurückgezogen hat, liegen die Berghänge und Felswände frei. Aus ihnen können sich Felsbrocken lösen und der Schwerkraft folgend ins Rutschen geraten.
Das Gesteinsmaterial transportiert gleichzeitig auch noch feine Sedimente mit. Das verstopft Täler und enge Stellen. Dieser natürliche aufgeschüttete Damm staut dann das Tauwasser, das vom Berg herunterkommt.
Neue Gletscherseen können zu Katastrophen führen
Das heißt: In Folge eines Starkniederschlags kann der See ausbrechen. Sturzfluten ergießen sich talwärts, mit verheerenden Folgen für Siedlungen und landwirtschaftliche Flächen.
So gehen die Verantwortlichen der Bergdörfer sowohl in Österreich als auch in der Schweiz davon aus, dass Teile ihres Ortskerns häufiger überflutet werden könnten. Pläne für den Bau massiver Betonmauern sind daher in Arbeit. Die Kosten für diese Schutzmaßnahme sind allerdings enorm hoch.
Ein paar der neuen Seen werden nur vorübergehend existieren, da sind sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einig. Sie werden wieder verschwinden. Denn die einmündenden Schmelzzuflüsse bringen viel Gesteinsmaterial mit sich und lagern sich ab - die Seen verlanden.
Fest steht aber: Um das Gefahrenpotential besser einschätzen zu können, werden die Glaziologen die Entwicklung neuer und künftiger Gletscherseen intensiv beobachten.
Christine Elsner ist Autorin in der ZDF-Redaktion Umwelt.