Der gewaltige Thwaites-Gletscher in der Antarktis verliert drastisch an Eis - mit Folgen für den Anstieg des Meeresspiegels weltweit. Ein "abrupter Kollaps" droht aber noch nicht.
"Doomsday-Glacier", also "Gletscher des jüngsten Gerichts", wird der Thwaites in der Westantarktis auch genannt. Es lässt aufhorchen, wenn in einem Gletscher mit diesem Spitznamen Risse beobachtet werden und vor einem Kollaps gewarnt wird.
Schnelleres Abschmelzen durch Klimawandel
So wie im Dezember, als US-Gletscherforscher zumindest nicht ausschlossen, der vordere Teil des Gletschers könne schon in wenigen Jahren wie eine angeknackste Windschutzscheibe zerspringen. Die Menge an Eis, die dann mehr oder weniger ungebremst in den Ozean rutschen würde, könnte den Meeresspiegel dramatisch steigen lassen.
Gerade wird kaum ein Gletscher so genau erforscht wie der Thwaites-Gletscher. Und das ist kein Zufall, denn tatsächlich macht er den Expertinnen und Experten große Sorgen. Seit Jahrzehnten schmilzt er durch den Klimawandel immer schneller. Schon heute verursacht er rund vier Prozent des weltweiten Meeresspiegelanstiegs, schätzt das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).
Etwa 4.000 Menschen aus aller Welt forschen in der Antarktis, wo der Klimawandel Spuren hinterlassen hat.
Thwaites-Gletscher: Gewaltige Menge Eis
Der Thwaites-Gletscher ist gewaltig und mit den Eisströmen in den Alpen nicht zu vergleichen. Seine Fläche würde Dreiviertel der Fläche von Deutschland bedecken.
Dazu kommt, dass er auch die umliegenden Gletscher stabilisiert. Sein Verschwinden würde daher das gesamte westantarktische Eisschild gefährden. Das Eis reicht für einen Anstieg der Meere um vier bis fünf Metern.
Noch kein Kollaps des Gletschers
Zumindest theoretisch. Denn dass ein "abrupter Kollaps" unmittelbar bevorsteht, glaubt der Geophysiker und Polarforscher Gohl nicht. Ein völliges Verschwinden sei eher eine Sache von ein paar hundert Jahren. "Allerdings hat man die Prozesse noch nicht so gut verstanden, dass man eine genauere Vorhersage treffen kann", räumt er ein.
Sicher ist: Es strömt zunehmend wärmeres Wasser unter den Gletscher - dahin, wo das Eis vorher auf festem Boden auflag. Dort schmilzt es nun an der Unterseite des Gletschers.
Eisverlust doppelt so hoch
Die Grenze, an der das Eis noch auf dem Boden aufliegt, hat sich seit 1992 um 14 Kilometer ins Landesinnere zurückgezogen. "Durch dieses Ausdünnen und einen sich zum Kontinent hin vertiefenden Untergrund verliert der Gletscher langsam seine Auflage und wird sich immer weiter beschleunigen", so Gohl.
Heißt: Er fließt wie auf einem flüssigen Film. Das "Kalben", also das Abbrechen von Eismassen dort, wo der Gletscher den Ozean erreicht, passiert immer schneller. Der Eisverlust liegt heute bei etwa 50 Milliarden Tonnen im Jahr. Das ist doppelt so hoch wie noch vor 30 Jahren und zu hoch, als dass ihn Schneefälle auf dem westantarktischen Festland ausgleichen könnten.
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Geothermale Wärme beeinflusst die Gletschermassen
Dazu kommt ein weiterer Effekt: Unter dem Gletscher dringt besonders viel geothermale Wärme aus dem Erdinneren und beeinflusst das Gleitverhalten der Eismassen zusätzlich. Das haben Forschende des AWI letztes Jahr nachweisen können.
Der hohe Wärmestrom bestehe zwar schon seit Jahrmillionen, erklärt Gohl. Durch ihn könnte der Gletscher aber "wesentlich empfindlicher" auf das vom Meer einströmende wärmere Wasser reagieren.
Klima-Einfluss der Antarktis nicht unterschätzen
Wie schlimm es nun wirklich um den "Gletscher des jüngsten Gerichts" steht, müssen die Forschenden noch herausfinden. Für Gohl ist klar: Unterschätzt werden sollte er jedenfalls nicht.
Noch sei der Verlust von grönländischem Eis höher als der aus der Südpol-Region. "Aber der Anteil der Westantarktis erhöht sich dramatisch und wird bald über dem Anteil Grönlands liegen, wenn sich die Prozesse so fortsetzen sollten", warnt der Polarforscher und verdeutlicht das mit einer theoretischen Rechnung: Das gesamte Eis Grönlands würde den Meeresspiegel um sieben Meter erhöhen, das der Antarktis um 53 Meter.
Mark Hugo ist Redakteur in der ZDF-Umweltredaktion