Verkehrswende: Könnte das Neun-Euro-Ticket zur Regel werden?

    Perspektiven der Verkehrswende:Könnte das Neun-Euro-Ticket zur Regel werden?

    Jan Schneider
    von Jan Schneider
    07.06.2022 | 16:12
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    Nach einer Woche Neun-Euro-Ticket wird erste Bilanz gezogen: Viele Tickets wurden verkauft, Züge waren teilweise stark überfüllt. Kann das die Verkehrswende in Deutschland bringen?

    Bahnreisende steigen in einen Regionalzug nach Stralsund ein.
    Bahnreisende steigen in einen Regionalzug nach Stralsund ein, nachdem von der Deutschen Bahn das Neun-Euro-Sonderticket freigegeben wurde.
    Quelle: Reuters

    Als "populistischer Schnellschuss ohne nachhaltige Wirkung" wurde das Neun-Euro-Ticket von Fahrgastverbänden bezeichnet, als es im März auf einer Sonderkonferenz der Verkehrsminister diskutiert wurde. Gut zwei Monate später ist der "Schnellschuss" Realität und kann an Fahrkartenautomaten gekauft werden. Und wird auch gekauft: 6,5 Millionen Neun-Euro-Tickets wurden mittlerweile allein an Automaten oder Stellen der Deutschen Bahn verkauft. Hinzu kommen noch die Tickets, die bei regionalen Verkehrsverbünden gelöst wurden.
    Ist das dann jetzt also die Verkehrswende oder nur ein wilder Nahverkehrsritt durch den Sommer?

    Wie läuft das Projekt bisher?

    Das Pfingstwochenende war ein erster Härtetest für die Deutsche Bahn. Neben der Sternfahrt einiger Punker auf die Insel Sylt waren auch andere Strecken überdurchschnittlich stark ausgelastet. "Mit 86.000 Zugfahrten ist bei DB Regio über das lange Wochenende alles gerollt, was rollen kann", verkündete Jörg Sandvoß, Vorstandsvorsitzender der DB Regio in einem ersten Fazit.
    Die Personalvertretung der Deutschen Bahn berichtet nach dem Pfingstwochenende vor allem von einer hohen Belastung für die Mitarbeiter: Insgesamt gab es pro Tag rund 700 Meldungen von Überlastung, Problemen mit Passagieren oder Störungen an die Einsatzzentrale. Das sei signifikant mehr als an einem durchschnittlichen Wochenende und auch signifikant mehr als an einem Pfingstwochenende vor Corona.
    Über Probleme klagen auch die Gewerkschaften:

    Das Neun-Euro-Ticket über Pfingsten hat die Mitarbeiter*innen an die Belastungsgrenze gebracht.

    Martin Burkert, Vize-Vorsitzender der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG)

    Die größten Probleme am Wochenende seien dabei wie erwartet überfüllte Züge, die Fahrradmitnahme und die Durchsetzung der Maskenpflicht gewesen. Viele Reisende hätten sich jedoch solidarisch mit Beschäftigten verhalten.
    Besser als bei der Bahn scheint es für den ÖPNV in größeren Städten zu laufen: Zum Start des Neun-Euro-Tickets am 1. Juni habe sich die Zahl der Fahrgäste um rund zehn Prozent im Vergleich zu den Tagen davor erhöht, berichtet der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Hier reiche das zur Verfügung stehende Angebot aus, um einen reibungslosen Betrieb zu gewährleisten.

    War das Neun-Euro-Ticket also doch keine so gute Idee?

    Karl-Peter Naumann vom Fahrgastverband Pro Bahn fordert schon lange einen Ausbau der Kapazitäten im öffentlichen Nahverkehr und mehr Investitionen. Das Neun-Euro-Ticket an sich begrüßt er, es sei jedoch wertlos, wenn die Infrastruktur dahinter nicht ebenfalls ausgebaut werde. "Man kann mit Mobilitäts-Flatrates etwas machen, aber es ist ganz wichtig, dass man vorher die Kapazitäten schafft."

    Wenn sie eine Kneipe haben und Freibier anbieten, müssen sie auch vorher genügend Gläser beschaffen.

    Karl-Peter Naumann, Fahrgastverband Pro Bahn

    Naumann spricht von drei Faktoren, von denen ein erfolgreicher öffentlicher Nahverkehr abhängt:
    • Es gibt Preis-sensible Reisende, die nur fahren, wenn sie es sich leisten können.
    • Zeit-sensible Reisende, die eine gute, schnelle Verbindung suchen
    • und Komfort-sensible Reisende, die ungern bei einer Fahrt im überfüllten Wagen auf dem Boden sitzen.
    Das Neun-Euro-Ticket verändere aber nur den Preis der Fahrt.

    Es nutzt nichts, an nur einer Stellschraube zu drehen.

    Karl-Peter Naumann, Fahrgastverbad Pro Bahn

    Mehr als sieben Millionen Mal wurde das 9-Euro-Ticket schon gekauft. Wie läuft es am ersten Wochenende auf den Schienen und in den Städten? Wird Sylt jetzt wirklich überrannt, wie zuvor gemutmaßt?04.06.2022 | 4:49 min

    Was braucht es, damit es der Verkehrswende hilft?

    Auch die Initiative Agora Verkehrswende begrüßt das Projekt und die Bemühungen der Bundesregierung, mehr Menschen für den öffentlichen Nahverkehr zu begeistern. Das sei angesichts des Klimawandels auch dringend nötig:

    Es braucht eine massive Verschiebung in der Mobilität. Nach unseren Berechnungen müssen 30 Prozent der Kilometer, die wir mit dem Auto zurücklegen, künftig mit Bus und Bahn gefahren werden.

    Philipp Kosok, Agora Verkehrswende

    Nur so könnten die Klimaschutzziele der Regierung eingehalten werden. Der Preis des Tickets sei dabei eher nachrangig, erklärt Philipp Kosok gegenüber ZDFheute. Aktuell sei das Neun-Euro-Ticket finanziell ein "No-Brainer" - das heißt, die Menschen denken nicht groß über den Preis nach. Viele kaufen es, auch ohne genau zu wissen, ob sie es nutzen werden. Dieser niedrige Preis macht es für den Bund allerdings sehr teuer: Die drei Sommermonate werden mit 2,5 Milliarden Euro subventioniert.
    Dieses Geld wird jedoch dringend gebraucht, um das Angebot von Bus und Bahn weiter auszubauen und damit den öffentlichen Nahverkehr auch in ländlichen Regionen attraktiv zu machen für die Menschen.

    Das Angebot ist für die meisten Menschen aktuell keine Alternative zum eigenen Auto.

    Philipp Kosok, Agora Verkehrswende

    Kompromiss: Teurere Flatrate-Tickets und mehr Geld für die Infrastruktur

    Kosok schlägt einen Kompromiss vor: Der Bund soll Tickets weiter subventionieren, der Ticketpreis müsse aber nicht bei neun Euro für das ganze Bundesgebiet bleiben. 365 Euro pro Jahr - ähnlich wie in Wien - wären besser zu finanzieren. Auch müssten die Tickets nicht in ganz Deutschland gelten, für Pendler würden schon günstigere Tickets für das eigene Bundesland eine Erleichterung bringen.
    Sehr positiv sei allerdings, dass der Zugang zum ÖPNV mit dem Neun-Euro-Ticket sehr vereinfacht wurde. Darauf könne man aufbauen.
    Naumann vom Fahrgastverband pro Bahn knüpft daran an und plädiert für individuellere Angebote und kundenspezifische Tickets: Etwa für Langstrecken-Pendler oder Studierende, die regelmäßig in die Heimat fahren wollen.

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