Ein Vortrag über Geschlecht und Gender wurde im Juli an der Humboldt-Universität abgesagt. Die Kritik war groß, die Kritik an der Kritik ebenso. Nun ist er nachgeholt geworden.
Selten hat ein Vortrag einer weitgehend unbekannten Biologin so viel Ärger ausgelöst. Am Donnerstag holte die 32-jährige Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht an der Humboldt-Universität ihren Vortrag über biologische Geschlechter nach. Den hatte die Uni kürzlich nach einem Aufruf zu Protesten wegen Sicherheitsbedenken zunächst gestrichen und dafür heftige Kritik eingesteckt.
Halbstündiger Vortrag, Beifall, alles ruhig
Jetzt blieb alles ruhig, nach einer halben Stunde war auch schon alles vorbei und die junge Frau wurde im gut besetzten Fritz-Reuter-Saal der Uni beklatscht. Dass vor dem Unigebäude an der Dorotheenstraße ein Polizeiwagen Wache stand, dass der Auftritt der Biologin überhaupt Aufsehen erregte, das liegt an der komplizierten Vorgeschichte und einer hitzigen gesellschaftspolitischen Debatte.
Es geht um Geschlecht und Identität, um Wissenschaft und Freiheit, um Vorwürfe der Ideologie und Ignoranz. Beteiligte auf allen Seiten fühlen sich verletzt oder eingeschüchtert. Aber der Streit geht weit über die persönliche Ebene hinaus - und ist ziemlich unübersichtlich.
Der abgesagte Vortrag zur Gender-Debatte
Der Vortrag "Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht, Sex, Gender und warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt" der Biologin Marie-Luise Vollbrecht war für die Lange Nacht der Wissenschaften an der Humboldt-Universität geplant.
Nach einem Protestaufruf des "Arbeitskreises kritischer Jurist*innen" sagte die Uni die Präsentation aus Sicherheitsgründen ab. Vollbrecht hielt sie stattdessen auf Youtube. In der "Zeit" beschrieb sie ihre zentrale These:
Die Vortragende Marie-Luise Vollbrecht
Die 32-jährige Doktorandin wurde Anfang Juni als Co-Autorin eines Beitrags in der "Welt" unter dem Titel "Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren" bekannt. Die Autoren schreiben, die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ziele "darauf ab, den Forderungen von Trans-Lobbygruppen Gehör zu verschaffen, denen zufolge man das biologische Geschlecht wechseln könne".
Das sei eine "bedrohliche Entwicklung": "Es kann nicht angehen, dass eine kleine Anzahl von Aktivisten mit ihrer 'woken' Trans-Ideologie den ÖRR unterwandert", hieß es im Text.
Wir müssen reden! In der Folge “Auf der Couch” diskutieren die beiden Gäste, Teresa Reichl und Torben Hundsdörfer, über Sprache, die aufregt.
Die Kritik
Der "Welt"-Beitrag löste heftige Reaktionen aus, die nun bei der Debatte über Vollbrechts Vortrag eine Rolle spielen. Ausführlich legt dies eine Stellungnahme der HU-Studierendenvertretung dar, des sogenannten Referent*innenRats. Dieser beklagt die Diskriminierung von "trans*, inter* und *nichtbinären Personen (kurz TIN*)" und nennt Vollbrecht eine "offen TIN*-feindliche Person".
Vollbrecht solidarisiere sich mit "einer Bewegung, welche die Existenz von TIN*-Personen leugnet". Sie stehe den "Trans Exclusionary Feminists (TERFS)" nahe, die sich unter anderem gegen den Zugang von Transpersonen zu Räumen für Frauen wenden.
Was versprechen sich junge Menschen wie der queere Religionslehrer oder die junge Theologiestudentin von der katholischen Kirche?
Vollbrecht sagte dazu T-Online:
Die Kritik an der Kritik
Nach der Absage des Vortrags wurde vor allem die Humboldt-Universität scharf angegriffen. Diese habe der Wissenschaftsfreiheit einen Bärendienst erwiesen, sagte der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes, Bernhard Kempen, Anfang Juli.
Ein Kommentar der "Welt" sprach von einem "krassen Fall von Cancel Culture". Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" schrieb: "Es ist die Haus- und Hofideologie der Universitäten, die in Berlin nach außen getreten ist: Geschlecht ist nicht mehr als ein soziales Konstrukt."
Meinungsfrei oder mundtot?
Vollbrecht selbst äußerte Verständnis für Sicherheitsbedenken der Uni, schrieb aber in der "Zeit" auch:
Die Biologin beruft sich auf rein wissenschaftliche Erkenntnisse. Das tun aber auch ihre Kritiker. So schreibt der Referent*innenRat: "Die Wissenschaftsfreiheit ist kein Mantel für die Verbreitung von menschenverachtenden Ideologien und gegen Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse gerichteter Propaganda - die Erde ist keine Scheibe, die Evolution ist kein Verschwörungsmythos und die Unterschiedlichkeit von Menschen hat mehr als zwei Seiten."