Cancel Culture und toxische Beziehung: Zwei Begriffe, die im Rechtsstreit zwischen Johnny Depp und Amber Heard oft fallen. Experten sehen die Entwicklung kritisch.
Täglich kommen im Zivilprozess zwischen den Schauspielern Johnny Depp und Amber Heard neue Details zur Beziehung der beiden heraus. Dabei geht es häufig um psychische und physische Gewalt, die sich das Ex-Ehepaar gegenseitig vorwirft. Immer wieder ist von einer toxischen Beziehung die Rede - doch was bedeutet das überhaupt?
Der Psychologe Christian Roesler findet den Begriff "toxisch" problematisch: "Toxisch unterstellt, dass ein Partner Gift für die Beziehung ist, das ist abwertend und unmenschlich." In der Regel seien aber beide Partner zu gleichen Teilen verantwortlich für die Situation. In der Psychologie spreche man deshalb von einer "dysfunktionalen" Beziehung.
Wie erkennt man eine dysfunktionale Beziehung?
Eine solche Konstellation zeichnet sich laut Roesler dadurch aus, dass Partner immer wieder in die gleichen Konfliktarten geraten, die sie nicht mehr allein klären können. "Das Schema, das bei zwei Dritteln der Fälle auftritt, ist das Verfolger-Vermeider-Muster. Ein Teil macht ständig Vorwürfe, der andere zieht sich daraufhin zurück." Tragisch sei, dass durch einen Akt der Liebe, nämlich der verzweifelte Versuch, Nähe zu erzeugen, das Gegenteil erreicht werde.
Jahrelang übt Jasmins Ex-Partner psychische Gewalt an ihr aus. Hochschwanger flüchtet sie, geht in ein Frauenhaus und baut sich ein neues Leben auf.
Ob das auch auf Amber Heard und Johnny Depp zutreffe, möchte der Experte aus der Ferne nicht diagnostizieren, aber:
In diesen Kreisen kommen Risikofaktoren wie Drogenkonsum oder Alkoholsucht dazu. Schwergestörte Beziehungsgeflechte enden häufig in einem Teufelskreis, der zu emotionaler und körperlicher Gewalt führen kann.
"Gewalt wird von beiden Geschlechtern angewendet. Das ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Ohnmacht. Ein Defizit an Kompetenzen, die eigenen Bedürfnisse normal zu kommunizieren", sagt der Psychologe. Der Experte appelliert an Paare, die das Gefühl haben, eine dysfunktionale Beziehung zu führen: "Holen Sie sich frühzeitig Hilfe."
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Vorwurf sogenannter Cancel Culture
Der Fall "Johnny Depp vs. Amber Heard" hat noch eine weitere, diskussionswürdige Dimension: Der Vorwurf einer sogenannten Cancel Culture. Johnny Depp, der infolge der Gewaltvorwürfe von Heard seine Schauspieler-Rolle in der Fantasy-Filmreihe "Phantastische Tierwesen" verloren hat, sieht darin einen Beleg für eine um sich greifende Zensur-Kultur.
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von Michaela WaldowDie Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky erklärt, der Begriff Cancel Culture sei "schillernd, aber auch total vage". Er eignet sich für alles Mögliche, werde aber verwendet, um angebliche Formen nichtstaatlicher oder nicht gesetzlich geregelter Zensur zu benennen.
Villa Braslavsky versteht, dass handelnde Personen den Schauspieler Johnny Depp erst einmal aus der Rolle genommen haben, solange der Fall nicht geklärt sei. "Man hätte aber auch sagen können, es gilt die Unschuldsvermutung."
Die Debatte um die ablehnenden Aussagen über ein Transgendergesetz der "Harry Potter"-Schriftstellerin J.K. Rowling sei ein Beispiel dafür, dass es keine Cancel Culture gebe. "J.K. Rowling verdient immer noch Millionen und ist in den Medien überaus präsent sowie beruflich überaus erfolgreich", so Villa Braslavsky. Zuletzt war die Autorin just am Drehbuch des Films beteiligt, aus dem Johnny Depp gestrichen wurde. Das verdeutlicht die Komplexität der Thematik.
Cancel Culture: Besondere Rolle Sozialer Medien
Verantwortlich für die Sichtbarkeit solcher Diskussionen, durch die sich Menschen gecancelt fühlen, sind aus Sicht der Soziologin die Sozialen Medien.
Schon vor Social Media habe es sprachliche Grenzen gegeben. "In gesellschaftlichen Konstellationen gibt es bestimmte Formen des Sprechens, einiges ist sagbar, anderes nicht. So funktioniert Gesellschaft", sagt Villa Braslavsky. Anders könnten wir gar nicht handeln. Doch diese Grenzen werden permanent neu verhandelt, auch das sei normal in modernen Gesellschaften.
Im Umgang mit dem Thema Cancel Culture plädiert die Soziologin in Zukunft für "Lässigkeit, Entspanntheit, aber auch Wachsamkeit vor tatsächlichen Missständen im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit".