Cherson war die erste Stadt, die von Russland eingenommen wurde. Die Einwohner leben seitdem unter harten Bedingungen - oder haben sich auf eine gefährliche Flucht begeben.
An einem frühen Morgen hatte Wolodymyr Schdanow genug von dem Leben unter den russischen Besatzern. Beschuss, der ukrainischen Soldaten galt, schlug in der Nähe seines Hauses in Cherson ein, versetzte eines seiner zwei Kinder, die achtjährige Tochter, in Angst und Schrecken. "Es war zwei Uhr morgens, und sie hatte wirklich Angst", schildert Schdanow.
Er flüchtete wenig später aus seiner Heimatstadt am Schwarzen Meer und lebt seit drei Wochen mit seiner Familie in Kiew.
Cherson: Schlüsselpunkt für Russland
Cherson nördlich der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim war die erste Stadt, die nach der russischen Invasion am 24. Februar fiel. Der Hafen steht weiter im Zentrum des Konflikts und der Bemühungen der Ukraine, ihren wichtigen Zugang zum Meer zu bewahren. Für Russland ist Cherson ein Schlüsselpunkt auf dem Landkorridor von seiner Grenze zur Krim.
Schdanow und andere geflüchtete Einwohner beschreiben die zunehmend harten Lebensbedingungen in der Stadt unter den Russen, die versuchen, sich die permanente Kontrolle über die Region zu sichern.
Russische Patrouillen auf den Straßen
Die Straßen in Cherson, wo einst etwa 300.000 Menschen lebten, sind überwiegend leer. Es gibt Gerüchte über Aktionen des bewaffneten Widerstands und das Verschwinden von städtischen Beamten, die sich weigern, mit den russischen Obrigkeiten zusammenzuarbeiten. Russische Kräfte patrouillieren auf den Märkten, warnen jene, die versuchen, Geschäfte mit der ukrainischen Währung anstatt dem Rubel zu tätigen.
Sowohl in örtlichen und regionalen Verwaltungen als auch bei der Polizei sind moskaufreundliche Offizielle eingesetzt, und auf Arbeiter in verschiedenen Bereichen städtischer Dienstleistungen wird Druck ausgeübt, mit russischen Managern zu kooperieren.
Mangel an Medikamenten und heftige Preisanstiege
Die meisten Schulen sind geschlossen. Die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarf ist unausgeglichen, die meisten kommerziellen Aktivitäten sind zum Stillstand gekommen. Es gibt einen Mangel an Medikamenten und heftige Preisanstiege bei anderen Verbrauchsgütern.
Ein Busfahrschein nach Saporischschja, 300 Kilometer nordöstlich von Cherson, kostet jetzt umgerechnet etwa 160 Euro, vor dem Krieg waren es 10. Vor allem aber die sichtbare Präsenz der Invasoren macht das Leben in Cherson unerträglich, wie Schdanow es beschreibt.
Viele Einwohner hatten sich ursprünglich zum Bleiben entschlossen, jedenfalls so lange wie möglich - in Erwartung eines versprochenen ukrainischen Gegenangriffs, der aber nicht kam.
Ukrainer unter Druck
Mittlerweile haben von Moskau eingesetzte Amtsträger ein Referendum über die Eingliederung der Region in Russland angekündigt, aber bislang gibt es kein konkretes Datum dafür. Derweil werden verbliebene Einwohner unter Druck gesetzt, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen.
Das Einkommen aus dem Blumengeschäft von Schdanows Familie ist nach dem Währungswechsel eingetrocknet, auch wenn er weiter Pflanzen gezüchtet hat. "Es ist schwer, ohne Geld und Essen zu überleben", sagt er.
Soldaten durchsuchen Gepäck
Wer Cherson verlassen will, muss eine Reihe von russischen Kontrollpunkten passieren. Soldaten durchsuchen Gepäck, checken Personalausweise und Mobiltelefone, und wer im Verdacht steht, den Widerstand zu unterstützen, wird in sogenannten Filtrationslagern verhört.
Als Schdanow schließlich mit seiner Familie flüchtete, versteckte er eine ukrainische Flagge unten in seinem Gepäck - und ging damit das Risiko einer Festnahme ein. Aber die Fahne hatte eine besondere Bedeutung für ihn. Sie stammte von einer öffentlichen Protestaktion gegen die russische Truppenpräsenz. Russische Truppen, die Schdanows Leben vollkommen verändert hatten.
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