Entspannt leben, kaum Corona-Regeln, Selbstverwirklichung: Das suchen immer mehr junge Erwachsene in China. Manche von ihnen finden es auch - mitten im Kontrollstaat.
Null-Covid war lange Zeit das Aushängeschild von China. Doch immer mehr junge Erwachsene wollen ein anderes China und suchen sich alternative Lebensstile.
Wenn es um China geht, geht es meistens um Diktatur, Überwachung und Null-Covid. Viele junge Chinesinnen und Chinesen sehen ihr Land anders - oder wollen es anders. Sie wollen auch mal chillen, ihren Traumjob frei wählen, nicht andauernd kontrolliert werden - und trotzdem in ihrem Land bleiben. Diese Beispiele zeigen ein ganz anderes, ein besonders seit Corona total ungewohntes China.
Als Sexualtherapeutin in Shenzhen
Nancy wohnt in Chinas Hightech-Metropole Shenzhen und arbeitet als Sexualtherapeutin. Das Leben hier: schnell, schneller, am schnellsten. Wenn es um Beziehungen geht, kann genau das zum Nachteil werden, meint die Anfang 30-Jährige:
In ihrem Büro kann man das Sexspielzeug begutachten, das sie bei ihren Workshops vorstellt. Die Teilnehmenden sind bunt gemischt, Singles wie auch Paare. Was sie eint, ist der Wunsch nach mehr Zärtlichkeit, mehr Bewusstsein füreinander. Nancy hilft ihnen, sich näherzukommen und dafür den Speed des Alltags zu reduzieren.
Offen über Sex zu reden, ist in China tabu. Staatliche Zensur kennt Nancy nur zu gut - ihre Social-Media-Kanäle werden immer wieder gesperrt: "Dadurch haben wir wirklich viele Follower verloren. Das wirkt sich natürlich auch auf unser Geschäft aus, auf unsere Einnahmen."
Außerdem zählt Sexualtherapie wohl eher zu den Ausgaben, auf die ihre Kundinnen und Kunden verzichten, wenn das Geld knapp wird. Und das wird es bei einigen - viele haben durch die Pandemie ihren Job verloren. Von den 16- bis 24-Jährigen ist jeder Fünfte arbeitslos.
Kaum Corona-Regeln mitten in China
Die Null-Covid-Politik war lange Zeit das Aushängeschild von Chinas Machthaber Xi Jinping. Für ihn ist sie das Symbol für die Überlegenheit des chinesischen Systems. Zu Beginn der Pandemie brachten die Behörden die Infektionen mit radikalen Maßnahmen unter Kontrolle.
Doch während der Rest der Welt spätestens seit der Omikron-Variante nach Wegen sucht, um mit dem Coronavirus zu leben, bleibt China dabei: das Virus eindämmen, ausmerzen, jeden Ausbruch im Keim ersticken - eine Strategie, die den Bürgerinnen und Bürgern enorm viel abverlangt.
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Wo in China kaum Corona-Maßnahmen herrschen
Es gibt aber auch Orte in China, in denen kaum noch Corona-Maßnahmen herrschen: Dort, wo es gerade keine Corona-Fälle gibt - zum Beispiel im Urlaubsparadies Dali mit seinem großen See, schöner Natur und entspannter Atmosphäre. Im Alltag trägt kaum noch jemand eine Maske, die Leute testen sich nicht alle drei Tage und scannen auch nicht ihre Gesundheitsapp, wenn sie ins Restaurant gehen.
Alles ein bisschen cooler. Das hat Xiao Ji und Brian so gut gefallen, dass sie Peking verlassen haben und nach Dali gezogen sind: "Hier ist alles entspannter und auch viel günstiger", sagt der 45-jährige Brian.
Entspannen, chillen, relaxen - genau das wollen immer mehr junge Chinesinnen und Chinesen, sagt Xiao Ji. Das Bild des fleißigen Chinesen, der nur für den Job lebt, habe zunehmend ausgedient:
Das Paar hat eine eigene Cocktailbar in ihrem Haus eröffnet, Kräuter wachsen auf der Dachterrasse, liebevoll kümmern sie sich um ihren alten Hund.
Ihr soziales Leben hat sich durch den Umzug grundlegend verändert - Treffen mit Freunden sind keine Termine im übervollen Kalender, sondern Alltag: "Hier ist es nicht wie in Peking. Wenn du dort jemandem treffen willst, musst du ein, zwei Wochen vorher einen Termin abmachen. Hier siehst du deine Freunde einfach die ganze Zeit", sagt die 39-jährige Xiao Ji.
Junge Chinesen wünschen sich "ein bequemes Leben"
Das empfindet auch Liu Jie. Seit er 15 ist, arbeitet er. Inzwischen ist er 24 und fährt vor allem Touristen durch seine Stadt. Er liebt es, ihnen seine Welt zu zeigen. Ohne Navi - die Straßen hat er im Kopf. An diesem Ort zu leben, ist für ihn ein Privileg, vor allem jetzt: "Wegen der Pandemie kommen weniger Touristen und wirtschaftlich läuft es echt schlecht. Viele meiner Freunde mussten in andere Städte gehen, um vorübergehend einen anderen Job zu finden."
Liu Jie ist noch hier - kommt auch mit weniger klar, solange er die Lebensqualität behält, die Dali bietet: "Das Leben hier ist einfach, entspannend, ohne viel Druck und das Tempo ist langsam. Das finde ich am besten: ein bequemes Leben."
Solche Worte von einem 24-Jährigen im hoch entwickelten Industriestaat China passen nicht zu der vom Wohlstand getriebenen Gesellschaft, die der chinesische Präsident Xi Jinping vor Augen hat. Auf dem Parteitag der Kommunistischen Partei im Herbst will er sich für eine dritte Amtszeit bestätigen lassen und seine Macht auf eine bisher undenkbare Dimension ausweiten. "Wir machen euch reich, ihr lasst uns machen" - das war bisher Xis Deal mit seinem Volk. Wenn eine Generation dieses Ziel aber nicht mehr teilt, hat er ein Problem.