Fehlende Strukturen und soziale Isolation: Die Corona-bedingten Lebensumstände können die Psyche belasten. Viele kämpfen mit einer Essstörung - oder erleiden Rückfälle.
Emotionaler Stress und Belastung der Psyche, wenig soziale Kontakte und ein ausgehebelter Alltag: Corona reißt Lücken. Und die versuchen viele Menschen mit Essen zu füllen, erklärt der Psychotherapeut Professor Dr. Michael Macht. Denn wo die Maßnahmen einerseits zwischenmenschliche Distanz geschaffen haben, ist andererseits eine ständige Nähe zum Kühlschrank entstanden. Nahrung wirke außerdem "beruhigend und emotional positiv", so der Psychotherapeut.
Pandemie kann Essstörungen begünstigen
Doch insbesondere emotionales Essen, also die "Gewohnheit, negative Gefühle und Stress mit Essen zu bewältigen", wie Macht definiert, birgt ein Risikopotenzial für die Entwicklung einer Essstörung - wenn eine Ausprägung erreicht wird, die als belastend empfunden wird, so der Experte. Zwar war das Verhaltensmuster des emotionalen Essens bereits vor der Pandemie verbreitet - doch für viele der Betroffenen hat sich das vermutlich verschärft, sagt Macht.
Hinzu kommt: Corona hat insbesondere vulnerable und vorbelastete Personen rückfällig werden lassen, wie eine neue Studie der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen zeigt.
Anhand von Selbstreporten und Interviews mit ehemaligen Betroffenen haben Expert*innen die Auswirkungen des ersten Shutdowns auf Patient*innen untersucht, bei denen schon vor Corona die sogenannte "Binge-Eating-Störung" diagnostiziert wurde.
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Essen als Stressbewältigung
Das Resultat der Studie: Die Häufigkeit von Essanfällen und allgemeiner Symptome von Essstörungen hat bei ehemaligen Betroffenen zu Beginn der Pandemie zugenommen.
Solche Rückfälle würden auftreten, weil Essen als "Regulation für Emotionen und Stress" genutzt werde, erklärt auch Professorin Dr. Katrin Giel, Studienleiterin und Leiterin des Arbeitsbereichs Psychobiologie des Essverhaltens am Universitätsklinikum Tübingen.
Auch das Homeoffice sowie die "stay at home order" seien Faktoren, die dazu beigetragen hätten, führt sie fort.
Essen bedeutet für viele Menschen vor allem auch: Stress pur. Intuitives Essen soll dabei helfen, den Körper akzeptieren zu lernen.
Binge-Eating und Bewegungsmangel können Adipositas begünstigen
Durch die oftmals auftretenden Essattacken bestehe außerdem die Gefahr, an Adipositas zu erkranken. Natürlich würden nicht alle adipösen Menschen unter Essstörungen leiden, so Prof. Dr. Macht. Doch
Auch der "Bewegungsmangel" in Zeiten der Pandemie könne den Trend zu Übergewicht verschärfen, warnt Expertin Giel.
Die Kontextbedingungen seien nicht förderlich gewesen: "Wenig Anreize und Möglichkeiten für Bewegung - und Essen als Ressource."
So befürchtet auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Pandemie zu mehr Fettleibigkeit führen wird, insbesondere bei Kindern. Übergewicht und Adipositas stünden in direkter Verbindung mit lebensbedrohlichen Krankheiten wie Diabetes und Krebs. Deshalb müssten Vorbeugungsmaßnahmen priorisiert werden, fordert die WHO.
Interventions- und Präventionsstrategien für Betroffene entwickeln
Auch um Personen mit einer Essstörung zu unterstützen, seien entsprechende Strategien wichtig, heißt es in der Studie der Uniklinik Tübingen. Die Pandemie hätte den Zugang zu persönlichen Therapien erschwert, teilweise musste die Versorgung umgestellt werden, so Giel. Deshalb betont sie die Notwendigkeit digitaler Angebote.
Ebenso dürften Freund*innen und Angehörige eine positive Unterstützung sein.
Statt Schuldzuweisungen empfiehlt sie, Sorge gegenüber der betroffenen Person zu äußern und ihr emphatisch entgegenzutreten.
Den Teufelskreis durchbrechen
Für Betroffene, die den Teufelskreis selbst durchbrechen wollen, nennt Psychotherapeut Macht drei entscheidende Schritte:
- das emotional ausgelöste Verlangen nach Nahrung erkennen
- den Essimpuls kontrollieren, ohne zu essen
- lernen, negative Emotionen anders als durch Essen zu bewältigen
Allerdings betont er, dass das ein Lernprozess sei, der einige Zeit beanspruchen könne und oft eine gewisse Beharrlichkeit erfordere.
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