Damit die Gesellschaft nicht an Corona zerbricht, kommt es nicht nur darauf an, zu verzeihen. Das sagt Peter Dabrock, Ex-Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Ein Gastkommentar.
"Wir schaffen das!" Ja, auch das werden wir schaffen. Irgendwann, Mitte, Ende 2021, vielleicht doch erst 2022. Je nachdem, welche Mutationen noch kommen, je nachdem, wie es mit der Impfung weitergeht, je nachdem, ob wir endlich effektive Strategien finden, auch unter Pandemie-Bedingungen wieder Elemente von Normalität zurückzuerobern.
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Bis dahin wird es schwer. Dass es ruckelt, dass es brodelt, dass es knirscht - das sehen alle. Die Sorge, dass die Appelle (zu) viele Menschen nicht mehr erreichen, nimmt zu. Der Kitt des Zusammenhalts bröckelt - so heißt es. Aber stimmt das?
Mit Zuversicht dem Gemeinschaftsblues trotzen
Staunend schaue ich nach Amerika, wie eine Nation, die kurz vorm zumindest mentalen Bürgerkrieg stand, sich wundersam neu zu erfinden sucht. Ob es gelingt? Schwer zu sagen. Aber sicher ist: Das Glas ist dort halb voll. Warum?
Erinnerung an wichtige Zeiten, bei uns andere als dort. Und zuversichtliche Erwartung, wie es - wieder oder neu - werden könnte, beschwören. Gegen Widrigkeiten, mit neuem Mut in die Gegenwart. Den meisten von uns ist amerikanisches Pathos fremd. Aber Erinnerung und Erwartung sind wichtige Marker, nicht nur dem persönlichen, sondern auch dem Gemeinschaftsblues zu trotzen.
Politik muss Anklagen zuhören
Die Erinnerung schließt ein: Die berechtigte Klage, das Beklagen des Verlorenen, die Tränen über die Verlorenen, aber auch das Anklagen erlebter oder gefühlter Ungerechtigkeiten. Alles darf auf den Tisch der Debatte, aber nicht in jedem Ton muss alles gehört werden.
Anklage ist im demokratischen Rechtsstaat keine Majestätsbeleidigung - das müssen wir uns sagen dürfen, das muss aber auch von denen, die Verantwortung tragen, gehört werden. Es gibt eine Holschuld der politisch Verantwortlichen, in diesen Zeiten auf die Bevölkerung zu hören. Nicht nur anekdotisch, sondern systematisch, organisiert, ausgewertet. Denn "vor Ort" ist so viel Weisheit. Darauf gezielt zu lauschen, das stiftet Zusammenhalt neu.
Die Corona-Maßnahmen wurde bis in das nächste Jahr hinein verlängert, ein Ende ist nicht in Sicht - so mancher wird dabei Pandemiemüde.
Trotz Pandemie-Müdigkeit Zähne zusammenbeißen
Erinnerung führt aber auch in die guten Zeiten, lässt von Schönem träumen: So war es früher - für das hat es sich gelohnt zu leben und danach zu streben. Jede*r hat diese Erinnerungen, die ein Lächeln auf das Gesicht zaubern und für die keine Mühe zu viel war. Und genauso vermisst jede*r solche Zeiten, solche Unterbrechungen der Routine.
Es ist ein Gedankenklick weiter, um zu sagen: Das war so gut, das soll wieder so sein, das muss möglichst bald wieder kommen. Dafür beiße ich, beißen wir jetzt die Zähne zusammen, auch wenn es weh tut. Und ganz offensichtlich - aller Müdigkeit zum Trotz - sieht das der überwiegende Teil der Bevölkerung so.
Sehnsucht nach Übermorgen hilft jetzt durchzuhalten
Deshalb gesellt sich zur Erinnerung die Erwartung auf Kommendes, das Gute und nicht nur das Befürchtete. Damit wir das Heute und Morgen durchhalten, brauchen wir das Sehnen nach dem Übermorgen. Aber auch da gilt: Damit es nicht Überübermorgen wird, muss ich, müssen wir jetzt zurückstecken - "Zähne zusammen".
Fröhliche Erinnerung und zuversichtliche Erwartung sind wichtig für jede einzelne Person. Erinnerung und Erwartung können die Einsicht öffnen, dass es nicht alleine geht, sie können so indirekt den gesellschaftlichen Zusammenhalt befördern.
Auf das Verzeihen kommt es an
Aber das Ganze darf nicht im romantischen Ungefähren verbleiben. Hannah Arendt, die das letzte Jahrhundert zu einer wahren Querdenkerin gemacht hat - auch für unsere Tage -, schreibt, dass Erinnerung und Erwartung in die Form des Handelns gegossen werden können, ja müssen.
Handeln ist deshalb entscheidend, weil es für sie im Unterschied zum Arbeiten, Herstellen, aber auch zum Herrschen die menschliche Tätigkeit ist, die uns unsere Einzigkeit genau dann gibt, wenn wir mit anderen zusammenstehen und Gemeinsames vollbringen. Und dafür braucht es als handelnde Form der Erinnerung Verzeihen.
Verträge müssen eingehalten werden
Arendt wusste, dass jedes Handeln unfassbar viele unabsehbare Folgen mit sich bringt, dass es immer bedeutet, schuldig zu werden. Deshalb müssen wir uns, um handeln zu können und Zukunft zu gewinnen: Verzeihen - mit der Ergänzung "viel" ist diese Einsicht eines der bekanntesten Worte der Krise geworden.
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Aber von Arendt lernen wir auch: Verzeihen muss ernst gemeint sein. Nur so gewinnt es Gegenwart und Zukunft. Der Ruf zu verzeihen darf nicht strategisch eingesetzt werden. Worin zeigt sich ein Gradmesser für Handeln, ein Maß dafür, Gemeinschaft zu stiften und so gesellschaftlichen Zusammenhalt zu befördern? Hier kommt für Arendt das Handeln in den Blick: Verträge müssen eingegangen werden - das heißt: Auf Zukunft hin binden wir uns.
Zukunft der jungen Generation nicht verspielen
Verträge brauchen keine Liebe, aber Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. Verträge sind zu halten. Wer dagegen verstößt, gefährdet Zukunft. In der Krise erleben wir, dass der Gesellschaftsvertrag nur funktioniert, wenn wir alle mitnehmen. Wer will schon, dass eine ganze Generation abgehängt wird?
Dieser Einsicht darf sich niemand verschließen: Auch die Betriebe nicht, die noch immer hadern, ob Homeoffice ihre Bilanz gefährdet. Wenn wir heute den Generationenvertrag mit der jungen Generation nicht halten, den wir eingegangen sind, als wir sie - ungefragt - ins Leben gebracht haben, wie wollen wir dann Zukunft für sie, für uns und - ganz schnöde - für unsere Volkswirtschaft und unser Land in Europa wie der Welt gewinnen?
Demokratie heißt gleiche Achtung aller Menschen
Verträge werden dann mit Leben gefüllt, wenn sie nicht knebeln, wenn sie Erwartungssicherheit und Handlungsmöglichkeiten schenken. Geben wir uns solche Verträge im demokratischen Rechtsstaat. Der Rechtsstaat sagt: Grundrechte sind keine Privilegien, wenn der Grund ihrer zeitweiligen Einschränkung entfällt. Der Demokratie muss es um gleiche Achtung aller gehen.
Also schauen wir, dass wir nicht diskriminieren. Deshalb sollte, wenn die Impfung bringt, was erhofft ist, gesellschaftliches Leben so möglich sein, dass die einen sich ihrer Impfung erfreuen und die anderen durch die neuen Schnelltests an den schönen Dingen, - etwas umständlicher, aber immerhin - teilhaben können. Das sind nicht nur faire, sondern schöne Aussichten.
Mit Verzeihen und Verträgen Zusammenhalt stärken
Schnelltests sind derzeit die Handlungserwartung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. So wird ganz praktisch und - im Arendt’schen Sinne - ganz groß vom Handeln gedacht. In Erinnerung und Erwartung, mit Verzeihen und Verträgen können wir in der Pandemie handeln, Gemeinschaft stiften und Zusammenhalt stärken.
Ob es gelingt? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß: Ohne all das gelingt es nicht. Also: Erinnert Euch! Erwartet! Verzeiht! Haltet Verträge! Dann schaffen wir das!
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