Seit Tagen stagniert die Inzidenz. Doch Experten sehen keine Trendwende. Zwar wirken auch die Maßnahmen, doch die Zahlen spiegeln nicht das wahre Infektionsgeschehen.
Die Kurve der Corona-Inzidenz, die seit Mitte Oktober nur eine Richtung kannte - steil nach oben - hat nun offenbar ein Plateau erreicht. Seit Tagen stagnieren die Zahlen. Dazu kommt: Auch der Ansteckungsindikator, der sogenannte R-Wert, ist mit 0,95 vergleichsweise niedrig. Ein R-Wert von 0,95 bedeutet, dass 100 Infizierte rechnerisch 95 weitere Menschen anstecken. Haben wir nun das schlimmste der vierten Welle überstanden?
Tatsächliche Infektionszahlen sind wohl höher
ZDFheute hat dazu die Stimmen verschiedener Experten gesammelt. Alle gehen übereinstimmend davon aus, dass es noch zu früh ist, von einer Trendwende zu sprechen oder gar eine vorläufige Entwarnung zu geben. Sie glauben zwar, dass auch die Maßnahmen wie 2G bereits eine Wirkung zeigen und die Bevölkerung sich vermutlich vorsichtiger verhält. Doch für die jetzt wieder sinkenden Zahlen gibt es weitere Gründe. So erklärt etwa der Frankfurter Virologe Martin Stürmer.
Der Mathematiker Kristan Schneider, der an der Hochschule Mittweida epidemiologische Prozesse modellierte, wies im Interview mit ZDFheute darauf hin, dass der Anteil der unerkannten Infektionen, also die Dunkelziffer, immer größer wird, je höher die Zahlen steigen - "weil man einfach mit dem Testen nicht nachkommt bei so vielen Verdachtsfällen".
RKI spricht von "erschöpfte Laborkapazitäten"
Auch der Münchner Infektiologe Clemens Wendtner glaubt nicht, dass sich das Infektionsgeschehen wesentlich geändert hat. Im Interview mit dem Magazin "Spiegel" fasst er zusammen: "Je höher die Inzidenzen, desto unsicherer sind die Zahlen. Davor haben viele Experten gewarnt."
Selbst das RKI bestätigt, dass die Zahlen verzerrt sein könnten: Im aktuellen Wochenbericht von diesem Donnerstag heißt es, das Ende des Anstiegs der 7-Tage-Inzidenz könne einerseits "ein erster Hinweis auf eine sich leicht abschwächende Dynamik im Transmissionsgeschehen aufgrund der deutlich intensivierten Maßnahmen zur Kontaktreduzierung sein."
Trend erst nach zwölf Tagen erkennbar
Der Modellierer Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt Universität weist darauf hin, dass das Infektionsgeschehen regional stark unterschiedlich ist: Während in einigen bayerischen Landkreisen die Zahlen seit einiger Zeit stagnierten, seien manche sächsischen Landkreise noch immer im exponentiellen Wachstum. "So spiegelt die bundesweit gemittelte Inzidenz diese starken Unterschiede nicht wider", so Brockmann.
Aus der zweiten Corona-Welle wisse man, dass auch temporäre Plateaus nach einigen Tagen wieder in exponentielles Wachstum übergehen können, also die Zahlen nicht zwangsläufig weiter fallen müssen, so Brockmann. Ein wirklicher Trend lasse sich erst nach etwa zwölf Tagen erkennen.
Entspannung ab Januar?
Es sei verfrüht, aus dem Trend der letzten Tage Abschätzungen für die zweite Dezemberhälfte vorzunehmen, schlussfolgert auch Gérard Krause, Leiter der Abteilung für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung. Es sei gut möglich, dass zum Ende des Jahres die Fallzahlen wieder ansteigen. "Sofern die Omikron-Variante hier nicht zu Überraschungen führt, erwarte ich aber ab Januar eine Entspannung."
Wenn es gelungen sei, die wichtigsten Zielgruppen zu impfen, werden wir vermutlich "in den kommenden Wochen eine geringere Zahl der Neuaufnahmen auf Intensivstation beobachten", so Krause. Dennoch rät er dazu, Massenveranstaltungen strenger zu regulieren oder ganz zu verbieten.
- Warum die Intensiv-Lage so angespannt ist
Die Corona-Neuinfektionen sind so hoch-, Personal auf den Intensivstationen so knapp wie nie. Warum sich die Lage gegenüber der 2. und 3. Welle verschärft hat: