Was tun, wenn nächste Angehörige Corona leugnen oder Verschwörungsmythen anhängen? Ein junges Paar hat eine Selbsthilfegruppe gegründet - um sich und andere zu unterstützen.
Familien zerbrechen, Ehepartner stehen sich fremd gegenüber, enge Eltern-Kind-Bindungen zerreißen. Wenn Angehörige oder Freunde in der Pandemie zu Anhängern von Verschwörungsmythen werden, sich zu Corona-Leugnern entwickeln, sind die Belastungsproben schwer, zerstört das selbst innigste Beziehungen.
Studentin Sarah, die das Abdriften ihres Vaters kaum ertragen kann, ihn aber auf keinen Fall aufgeben möchte, hat mit ihrem Freund eine Selbsthilfegruppe gegründet. "Bei allen ist der Leidensdruck über die Zeit größer geworden", schildert Sarah.
Verschwörungsmythen verändern Lebenseinstellung
"Allen ist bewusst, dass es kein Allheilmittel gibt", betont ihr Freund Tim. Aber man könne sich Tipps geben - etwa, wie sich Streitthemen umschiffen lassen. Und wo man Unterstützung von Fachberatungsstellen bekommt, meinte der 32-Jährige.
Die 30-jährige Sarah weiß, wie sich die Verzweiflung anfühlt.
Das war nicht ihr Vater, der studiert, in vielen Ländern gearbeitet hatte, der offen ist gegenüber allen Kulturen. "Vom Empfinden her war das nicht mehr mein Papa, auch nicht seine Wortwahl. Ich habe stundenlang geheult." Sein gesamtes Gedankenkonstrukt habe sich auf Corona, Impfverweigerung und Verschwörungsmythen verengt.
Gravierende Folgen für die Psyche
"Wenn der Glaube an Verschwörungen identitätsstiftend wird, beeinflusst er das gesamte Leben", erläutert Sozialpsychologin Pia Lamberty. Das zerstöre Ehen und Familien, führe zu Verzweiflung, auch Scham - und zu Schmerz, wenn nahestehende Menschen sterben, weil sie die Impfung als Verschwörung abgetan hatten.
"Deswegen ist es auch so wichtig, sich mit anderen auszutauschen, die Ähnliches erleben", sagt die Geschäftsführerin der Organisation CeMAS, die sich eingehend mit Verschwörungsmythen befasst. Selbsthilfegruppen seien gerade erst am Anfang.
Individuelle Hilfe durch Beratungsstellen
Den enorm wachsenden Beratungsbedarf sieht auch Christoph Grotepass vom Sekten-Info NRW. Es gehe um Zweifel an politischen Maßnahmen über diffuse Impfängste bis hin zur Vorstellung, dass die Bevölkerung belogen, dezimiert oder ausgetauscht werden solle.
Die Vertrauensbasis in den Familien schwinde, es komme zu Entfremdung, Sprachlosigkeit, Ängsten voreinander bis hin zur Gefährdung Dritter - auch Kinder - durch die Verweigerungen von Schutzmaßnahmen. Grotepass geht davon aus, dass eine Selbsthilfegruppe nicht für alle der geeignete Weg ist.
Beratungsstellen könnten individuell helfen, eine möglichst passgenaue Intervention zu finden.
"Probleme lösen sich nicht von selbst auf"
Vielerorts werden sich weitere Gruppen gründen, glaubt man bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle des Paritätischen. Selbst wenn die Corona-Krise überwunden sei, bleibe das Thema, würden sich die Probleme innerhalb der Familien nicht einfach von selbst auflösen.
Die Kontaktstelle hat die Gründung von Sarah und Tim unterstützt; eine Beraterin hat das erste Treffen begleitet. Viele Kontaktstellen stehen einer Sprecherin zufolge bei Neugründungswünschen parat.
Beweggründe emotional nachvollziehen
Nach schwierigen Monaten hat Sarah eine Strategie, auch dank intensiver Beratungen bei der Sekten-Info. In Gesprächen mit ihrem Vater sucht sie nun vor allem nach Verbindendem, Gemeinsamkeiten.
Ohnehin aussichtslos, meint Sarah. "Ich sage ihm aber klar, dass ich auf seine Themen keinen Bock habe." Sie bemüht sich, seine Beweggründe emotional nachzuvollziehen. "Da sehe ich Angst und Unsicherheit."
Tim sagt: "Niemand gibt gerne zu, sich verrannt zu haben. Man muss den Betroffenen auch Zeit geben und darf ihnen den Ausweg nicht blockieren." Inzwischen haben Beide eine zweite Gründung unterstützt: "Um dem großen Ansturm gerecht zu werden."
Fokussieren auf Positives, Reflexion am Ende des Tages und das "Annehmen der Situation" wären gut für die Psyche in der Pandemie, so Prof. Michèle Wessa, Psychologin und Resilienzforscherin an der Universität Mainz.