Die Corona-Zahlen schießen in Großbritannien in die Höhe. Experten raten zu harten Gegenmaßnahmen, doch Premier Johnson ist wohl politisch zu geschwächt, um auf sie zu hören.
Professor Chris Whitty ist ein besonnener Mann. Seit dem Ausbruch der Pandemie steht der Chief Medical Officer - sozusagen der oberste Arzt im Land - dem zuweilen unberechenbaren Premierminister Boris Johnson wiederholt bei Corona-Pressekonferenzen zur Seite. Und verzieht dabei kaum eine Miene. Ein Meister der Selbstbeherrschung? So trocken kommt Whitty daher, dass er sich den Spitznamen Mr. Next slide please redlich verdient hat.
Kontakte reduzieren - um Weihnachten zu retten
Als der Epidemiologe sich am letzten Donnerstag das nächste Dia hatte auflegen lassen, wich er jedoch vom üblichen Pfad ab. Die Kurve der positiv getesteten Corona-Fälle in Großbritannien zeigt aufgrund der sich rasch ausbreitenden Omikron-Variante so steil nach oben, dass sich Whitty zu ein paar Worten der ernsten Mahnung hinreißen ließ.
Die jüngste Zahl sei vermutlich nicht der letzte Rekord, der diesen Winter gebrochen werde, sagte er. Und es sei möglich, dass die Krankenhausauslastung die sehr kritische Lage im vergangenen Januar noch übertreffen könnte. Um Weihnachten zu retten, solle jeder darüber nachdenken, seine sozialen Kontakte jetzt zu reduzieren.
Dafür ist Whitty in der rechtskonservativen Presse tags drauf regelrecht geschlachtet worden. Diese Art von Panikmache sei eine Anmaßung. Und solcherlei Empfehlungen solle Whitty doch bitteschön den Politikern überlassen, hieß es da.
Johnson: Politisch zu beschädigt für härtere Maßnahmen
Genau hier aber liegt das Problem bei der Bekämpfung der nächsten Welle im Vereinigten Königreich. Boris Johnson, Großbritanniens oberster Politiker, hat durch etliche Skandale - vom Decken zahlreicher Korruptionsvorwürfe und Regelverstöße in seinem Umfeld bis hin zu einigen Ungereimtheiten, wie die zweifelhafte Finanzierung der Renovierung seiner Wohnung - zu viel Glaubwürdigkeit verloren.
- Der Anfang vom Ende für Boris Johnson?
Der britische Premier Boris Johnson gerät mächtig unter Druck. Ein Bericht über Weihnachtspartys im vergangenen Jahr steht an, dazu die Omikron-Variante - sein Rückhalt bröckelt.
Selbst wenn er strengere Maßnahmen zur Bekämpfung von Omikron für notwendig hielte, würde er sich womöglich nicht trauen, diese durchzusetzen. Weihnachten für Millionen Briten zu canceln, würde ihn endgültig den Rückhalt in der Bevölkerung kosten. Und wer sich selbst nicht an die Vorgaben hält - wie die inzwischen kaum mehr haltbar zu bestreitenden Partys in der Downing Street in der vorweihnachtlichen Lockdownzeit im letzten Jahr zeigen - kann schlecht neue aufstellen.
Dabei sind sich fast alle relevanten Wissenschaftler im Lande einig: Die bisherigen milden Maßnahmen wie Maskenpflicht in Bussen, Bahnen und Geschäften und die 2G-Regel bei Großveranstaltungen und in Nachtclubs reichen nicht aus, um den Vormarsch von Omikron einzudämmen.
Im Juli hatte Großbritannien nahezu alle Corona-Beschränkungen aufgehoben. Seither gibt es zehntausende Neuinfektionen täglich. Premier Johnson mahnt vor einem harten Winter und will Auffrischungsimpfungen ab 50 anbieten.
Neuinfektionen steigen rasant - Todesfälle zum Glück noch nicht
Über 93.000 Neuinfektionen verzeichnete das Königreich am Freitag - ein neuer Rekord, wie Whitty vorausgesagt hat. Die Experten gehen davon aus, dass die wirkliche Zahl an Infektionen allerdings inzwischen bei täglich weit über 200.000 liegen könnte. Die Zahl der Krankenhauseinweisungen und der Todesfälle pro Tag bleiben mit rund 6.000 bzw. um die 110 weiterhin relativ stabil. Woran das liegt - an einem möglicherweise milderen Krankheitsverlauf bei Omikron, einer hohen Anzahl an Genesenen oder allein dem Impfprogramm - ist die Wissenschaft noch nicht sicher. Dazu sind die vorliegenden Daten noch nicht ausreichend.
Die Regierung Johnson setzt derweil alles auf eine Karte. Knapp 750.000 Booster-Impfungen wurden am Donnerstag im Königreich verabreicht - auch das ein Rekord. Fast 45 Prozent aller über 12-Jährigen haben inzwischen die Auffrischung erhalten. Das ist der Schutzwall, von dem Boris Johnson hofft, dass er ausreicht, um die Prophezeiungen von Professor Whitty nicht eintreffen zu lassen.