Sport, Weiterbildungen oder Sprachkurse - im Shutdown suchen sich viele Menschen neue Ziele. In der Krise können solche Projekte Struktur geben und das Durchhaltevermögen stärken.
Von der Selbstoptimierungslust des ersten Corona-Shutdowns ist kaum etwas übrig. Dabei haben die Projekte eine Funktion, sagt die Psychologin Dr. Judith Mangelsdorf, die Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Positive Psychologie (DGPP).
Gut gestaltet konnten die Selbstoptimierungsprojekte also eine wichtige Funktion erfüllen: Sie halfen, durchzuhalten.
Die Corona-Pandemie hat einen Boom der persönlichen Entwicklung ausgelöst: Sport per App, Weiterbildung per Lernplattform, Audio-Sprachkurs beim Joggen.
Schließungen und Kontaktverbote zwangen die Menschen, zu Hause zu bleiben – und sich außerhalb von Bars, Kultur und Sportstudio selbst zu beschäftigen. Mit geschlossenen Kochschulen, Sportstudios und Volkshochschulen wanderte der Markt ins Internet.
Persönliche Weiterentwicklung - der Markt wächst
Das Team der deutschen Sprach-App Babbel berichtet vom erfolgreichsten Geschäftsjahr aller Zeiten.
"Außerdem lernen unsere bestehenden Kunden und Kundinnen mehr als zuvor: Es wurden doppelt so viele Lektionen abgeschlossen wie im Vorjahreszeitraum“, berichtet Nele von Lingelsheim-Lenz gegenüber ZDFheute.
Allein von März bis Mai 2020 sei die Zahl der Nutzerinnen und Nutzer um knapp 200 Prozent gestiegen.
Die Fitness-Influencerin Pamela Reif hat heute mehr als 6 Millionen Follower – etwa viermal so viele wie vor Corona. Im Dezember 2019 wurden ihre Videos 5 Millionen Mal abgerufen, im April 2020 mehr als 80 Millionen Mal.
Und Silke Bernhardt, die Gründerin der Online-Akademie "memole" für die berufliche Weiterbildung von Ergotherapeuten und Logopäden, erlebt knapp verfünffachte Zugriffszahlen. Die Kursverkäufe sind fast achtmal so hoch wie im Vorjahreszeitraum.
Struktur für die Psyche
Die Gestaltung der eigenen Entwicklung sei ein menschliches Grundbedürfnis, so Psychologin Mangelsdorf.
Ein Ziel zur persönlichen Entwicklung ersetzte damit äußere stabilisierende Faktoren, die bei vielen Menschen durch die Corona-Pandemie verloren gingen: die Tagesstruktur, bedingt durch Arbeitsweg, Job und wiederkehrende Ereignisse in der Freizeit.
"Wollen wir die psychische Stabilität halten, dann müssen wir selbst für eine Struktur sorgen", sagt Mangelsdorf. "Im ersten Lockdown sahen wir, dass viele Menschen sich Projekte im Außen gesucht haben, weil Arbeitsprojekte weggefallen sind."
Da wurden Keller entrümpelt und Sprachen gelernt. Inzwischen sehe man jedoch, dass sich die Stimmung wandele:
Selbstfürsorge und persönliche Entwicklung
Nun, da sich der Shutdown bald dem Ende nähere, sehe man die psychischen Kosten der Pandemie: "Psychische Auffälligkeiten und Erschöpfungszustände nehmen zu. In dieser Zeit braucht es einen sehr liebevollen Umgang mit sich selbst."
Statt von Selbstoptimierung spricht die Psychologin deshalb lieber von aktiver Selbstfürsorge und persönlicher Entwicklung. Diese könnten Hoffnung und Durchhaltevermögen geben: "Eine der zentralen Komponenten der Hoffnung ist das Erreichen von Teilzielen."
Persönliche Entwicklung dient der Psyche, wenn sie nicht durch Ansprüche von außen getrieben wird. "Viele Menschen beschäftigen sich im Alltag viel zu wenig mit der Frage, wer sie sein wollen und wohin sie sich entwickeln wollen", sagt Mangelsdorf.
Dabei ermögliche diese Frage den Übergang vom viel kritisierten Selbsoptimierungswahn zu echter persönlicher Entwicklung: "Um sinnvolle persönliche Entwicklungsschritte zu gehen, muss ich innehalten. Ich muss mich fragen: Wohin möchte ich eigentlich?"
Abseits der Selbstoptimierung unter Druck können die Menschen aus der Corona-Zeit also lernen, dass persönliche Projekte Kraft geben und Sinn stiften.