In Großbritannien wurde eine neue Virus-Variante entdeckt, die sich offenbar schneller ausbreitet. Vieles ist noch unklar - ein Überblick.
Die in Großbritannien entdeckte Coronavirus-Variante B.1.1.7 breitet sich offenbar schneller aus und ist ansteckender als die bisher bekannte Form. Der britische Gesundheitsminister Matt Hancock sagte in der BBC:
Die Mutation weitet sich vor allem in London und Südostengland aus. Für die Region ordneten die Behörden einen Shutdown mit Ausgangs- und Reisesperren an.
Der Berliner Virologe Christian Drosten geht davon aus, dass die Mutation auch in Deutschland angekommen ist - auch wenn sie noch nicht nachgewiesen wurde, wie er am Montagmorgen im Deutschlandfunk erklärte.
Aufgrund fehlender Daten war es aus seiner Sicht zunächst unklar, ob die neue Virus-Variante tatsächlich deutlich ansteckender sei. Mit Blick auf neue Zahlen schrieb Drosten später jedoch auf Twitter: "Das sieht leider nicht gut aus."
Positiv sei laut Drosten aber, dass die Fallzahlen mit der neuen Corona-Variante nur dort zugenommen hätten, wo die Gesamtinzidenz bereits hoch oder noch steigend war. Seine Schlussfolgerung: "Kontaktreduktion wirkt also auch gegen die Verbreitung der Mutante."
Ähnlich äußert sich Karl Lauterbach. Der Gesundheitsexperte der SPD zeigte sich besorgt und schrieb auf Twitter: "Es gilt: je später Variante bei uns einschlägt, desto besser."
Wie ansteckend könnte die neue Coronavirus-Variante sein?
Nach ersten Erkenntnissen britischer Wissenschaftler ist die Mutation um bis zu 70 Prozent schneller ausbreiten soll als ihr Vorgänger. Es gebe aber keine Hinweise darauf, dass die Variante schwerere Krankheitsverläufe auslöse oder tödlicher sei.
Es bleibe allerdings abzuwarten, welche Unterschiede sich im Langzeitverlauf zeigten, sagte der Virologe Martin Stürmer dem ZDF.
Wegen einer neuen Coronavirus-Variante verhängen Länder Reisebeschränkungen für Großbritannien, auch in Deutschland ist eine solche Regelung geplant.
Was bedeutet die Corona-Mutation für Kinder?
Die neue Variante des Virus ist möglicherweise für Kinder ansteckender als bisherige. "Es gibt einen Anhaltspunkt, dass sie eine höhere Neigung hat, Kinder zu infizieren", sagt Neil Ferguson vom Imperial College London, ein Mitglied der Expertengruppe Nervtag, die die Regierung berät.
Zwar sei der genaue Mechanismus noch unklar. "Aber wir sehen es anhand der Daten." Seiner Kollegin Wendy Barclay zufolge betreffen einige Mutationen die Art, wie das Virus in eine Zelle eindringt. Dies könnte bedeuten, dass "Kinder möglicherweise genauso anfällig sind für dieses Virus wie Erwachsene".
Wirken die Impfungen gegen die Mutation?
Die britischen Behörden und viele Wissenschaftler gehen bisher davon aus, dass die Covid-19-Impfstoffe auch gegen die Mutation wirksam sind. Auch Drosten sagte, er erwarte nicht, dass die veränderte Virus-Art Impfungen weniger effektiv mache. Dieser Punkt ist jedoch nicht eindeutig geklärt, weitere Tests sind notwendig.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Biontech-Chef Ugur Sahin zeigten sich zuversichtlich, dass der Impfstoff auch gegen die in Großbritannien entdeckte neue Mutation des Virus wirkt. Aus wissenschaftlicher Sicht sei die Wahrscheinlichkeit dafür hoch, sagte Sahin. "Wir haben den Impfstoff bereits gegen circa 20 andere Virusvarianten mit anderen Mutationen getestet. Die Immunantwort, die durch unseren Impfstoff hervorgerufen wurde, hat stets alle Virusformen inaktiviert."
Spahn sagte im ZDF, alle Erkenntnisse deuteten im Moment darauf hin, dass die Wirksamkeit bei der neuen Variante nicht beeinträchtigt sei. "Und das wäre natürlich eine sehr, sehr gute Nachricht."
Erste Analysen britischer Wissenschaftler zeigen, dass die neue Variante ungewöhnlich viele genetische Veränderungen im Spike-Protein aufweist. Das Problem: Der in Großbritannien eingesetzte Biontech-Impfstoff erzeugt eine Immunantwort gegen genau dieses Protein. Daher fürchten manche Forscher, dass die Wirksamkeit des Impfstoffs beeinflusst wird.
Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel sieht aber "derzeit keinen Grund für Alarm". Ähnlich äußerte sich Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM) in Wien. Mutationen seien nicht ungewöhnlich. Derzeit wisse man noch nicht, ob die Veränderungen die Eigenschaften des Erregers entscheidend verändern.
Wo wurde die neue Virus-Variante nachgewiesen?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte mit, abgesehen von den Fällen in England sei die Virus-Variante unter anderem in diesen Ländern festgestellt worden:
- Dänemark
- Niederlanden
- Australien
Nach Angaben des Virologen Julian Tang von der britischen Universität Leicester trat die N501Y-Mutation sporadisch in diesen Ländern auf:
- im April in Brasilien
- im Juni und Juli in Australien
- im Juli in den USA
Das Gesundheitsministerium in Rom teilte am Sonntagabend mit, dass die Mutation bei einem Patienten in Italien nachgewiesen worden sei. Er sei zusammen mit einer weiteren Person in den vergangenen Tagen aus Großbritannien zurückgekehrt und mit dem Flugzeug in Rom gelandet. Der Patient befinde sich nun in Quarantäne.
Besteht Gefahr durch eine Virus-Mutation in Südafrika?
In Südafrika entdeckten Forscherteams in ihren Proben kürzlich eine ähnliche Mutation des Coronavirus. Die 501.V2 genannte Variante könnte hinter der raschen Ausbreitung der zweiten Corona-Welle im Land stecken, erklärte Gesundheitsminister Zwelini Mkhize. Südafrikanischen Ärzten zufolge infizierten sich während der zweiten Welle mehr jüngere Menschen als zuvor. Sie litten zudem häufiger unter einem schwereren Verlauf von Covid-19.
Wie funktioniert die Sequenzierung?
Viren mutieren ständig - das bedeutet, dass sich ihr Erbgut verändert. Ob sie das für den Menschen gefährlicher macht oder nicht, hängt von der Art ihrer Veränderung ab. Damit man die vielen Mutationen des Coronavirus tracken kann, muss man ihre RNA sequenzieren.
In Großbritannien gibt es dafür ein eigenes Genomsequenzierungs-Konsortium, das "COVID-19 Genomics Consortium". Es hat zum Ziel, möglichst viele der positiven Corona-Tests untersuchen zu lassen. Im Sommer, als die Labore noch nicht so viele Corona-Tests auswerten mussten, konnten landesweit etwa die Hälfte aller positiven Tests sequenziert werden. Derzeit werden etwa 10.000 Positiv-Tests pro Woche sequenziert.
In Deutschland fehlen solche Strukturen, kritisiert Prof. Dr. Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf: "In Deutschland sind die Bemühungen bei den Sars-CoV-2-Sequenzierungen in meinen Augen nicht ausreichend. Großbritannien hat vorgemacht, wie man entsprechende Strukturen aufbauen kann. Das haben wir in Deutschland - aber auch in vielen anderen europäischen Ländern - bisher verpasst."
Die Mutationen werden in die Sequenzdatenbank GISAID eingespeist. Solche, die in Deutschland nachgewiesen wurden, werden auch in der Datenbank des Konsiliarlabors für Sars-CoV-2 am Institut für Virologie der Charité in Berlin gelistet.
Wie reagiert Großbritannien auf die neue Lage?
Wegen der raschen Ausbreitung der neuen Virus-Variante gilt in London und anderen Gegenden in Südostengland seit Sonntag ein neuer Lockdown mit weitreichenden Ausgangssperren, auch für die Weihnachtstage. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die schärferen Maßnahmen noch Monate in Kraft bleiben müssten, bis flächendeckend geimpft werden könne, sagte Hancock.
Welche Maßnahmen ergreifen andere Länder?
Um eine Ausbreitung der Virus-Mutation über Grenzen hinweg zu verhindern, kappen zahlreiche Staaten ihre Flugverbindungen dorthin. Das Bundesgesundheitsministerium verhängte am Dienstag ein generelles Beförderungsverbot für Reisende aus Großbritannien, Nordirland und Südafrika, um eine Ausbreitung nach Kontinentaleuropa zu verhindern.
Die EU-Kommission reagierte und empfahl, die von Mitgliedsstaaten verhängten vollständigen Reiseverbote nach Großbritannien zu lockern. Frachtverkehr und notwendige Reisen sollen demnach wieder möglich werden. So sollten Reisende wieder in ihre Heimat zurückkehren können.
Der Virologe Stürmer ist skeptisch, ob solche Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt noch viel bewirken können. Demnach haben sich die Virus-Varianten, die für das aktuelle Infektionsgeschehen verantwortlich sind, schon vor fast anderthalb bis zwei Wochen verbreitet. "Insofern mag es da durchaus auch schon zu spät sein."