Viele US-Städte verzeichnen Rekordzahlen bei Morden. Hauptursachen: Die Verwerfungen durch die Corona-Krise - und ein enormer Zuwachs an Waffenverkäufen seit Pandemiebeginn.
Die Corona-Pandemie hat in den USA nicht nur bei den Infektions- und Todesfällen für immer neue Höchststände gesorgt - viele Städte verzeichnen so viele Tötungsdelikte wie nie zuvor. Die Gewaltspirale begann auf dem Höhepunkt der Corona-Krise im vergangenen Jahr und dauert bis heute an.
Experten machen dafür mehrere Faktoren verantwortlich: Die Traumata durch das Virus, den wirtschaftlichen Aufschwung ohne Teilhabe der Minderheiten und eine rekordverdächtige Flut von Waffen im Land.
Philadelphia bricht Rekord: 535 Tötungsdelikte
Philadelphia mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern brach in diesem Jahr einen traurigen Rekord aus dem Jahr 1990: Mit mindestens 535 Tötungsdelikten überholte die "Stadt der brüderlichen Liebe" sogar die beiden größten US-Metropolen New York und Los Angeles.
Hilfsangebote wegen Corona zurückgefahren
Dorothy Johnson-Speight gründete nach dem Tod ihres Sohnes 2003, der mit 24 Jahren bei einem Streit um einen Parkplatz ums Leben kam, eine Gruppe. Mothers in Charge organisiert Seminare, um Wut und Aggressionen unter Kontrolle zu bringen, und hilft Angehörigen von Gewaltopfern.
In der Pandemie musste die NGO ihre Aktivitäten jedoch monatelang einschränken. Dies habe die Gewalt "eskalieren lassen", sagt Johnson-Speight. "Wenn man keine Anlaufstelle hat oder nicht weiß, wie man mit Wut umgehen soll, kann es schlimmer werden."
Kriminologe: Täter können mit Frust nicht umgehen
Die Zahlen sind dramatisch: Die Hauptstadt Washington verzeichnete mindestens 211 Morde, aber auch kleinere oder mittelgroße Städte wie Albuquerque mit mindestens 100 Tötungsdelikten, Portland mit mindestens 70 und Richmond mit 80 Morden brachen Rekorde.
"Die Leute sind nur noch wütend. Alles ärgert sie. Und dabei scheinen die Mechanismen, wie man mit Frust und Wut umgeht, über Bord gegangen zu sein", sagt der afroamerikanische ehemalige Polizist David Thomas. Vor allem junge Leute und vor allem junge schwarze Männer, "haben diese Wut in sich; sie streiten sich auf Facebook, dann endet es in einer Schießerei", betont Thomas. "Ein Menschenleben ist da wertlos".
Mehr Waffenverkäufe seit Pandemie-Beginn
Dorothy Johnson-Speight macht auch den Einfluss des Drill-Rap verantwortlich - eine Art Hip-Hop mit düsteren, gewalttätigen Themen. In den Videos präsentierten Drill-Rapper zu aggressiver Musik Waffen und sprächen davon, wen sie alles umbringen wollen, sagt sie. Natürlich sei das "Unterhaltung" - aber vor allem gehe es um "Waffen, Waffen und noch mehr Waffen - es ist das Einmaleins des Tötens".
Kriminalanalytiker Jeff Asher sieht die Hauptursache der neuen Gewaltwelle jedoch im "enormen Anstieg der Waffenverkäufe" seit Beginn der Pandemie. Nach Angaben des Unternehmens Small Arms Analytics & Forecasting wurden im vergangenen Jahr fast 23 Millionen Schusswaffen verkauft - auch das ein trauriger Rekord.
"Jeder hat eine Waffe", sagt der katholische Priester Michael Pfleger, der sich seit über 30 Jahren in Chicago gegen Gewalt einsetzt. "Die Leute sagen, 'ich brauche eine Waffe, weil jeder eine hat'."