In den Winter "mit angezogener Handbremse" und "nicht mit Vollgas gegen die Wand": Corona-Modellierer Lehr von der Saar-Uni will "nicht schwarzmalen" - mahnt aber Vernunft an.
ZDFheute: Die Welle rollt, die Zahl der Corona-Infizierten steigt an, Krankenhäuser laufen voll. Wieder einmal. War das erwartbar?
Thorsten Lehr: Ja, was wir jetzt sehen, ist sicherlich etwas, womit man rechnen konnte. Aber wir müssen auch sagen, dass ab Mitte September die Infektionslage noch mal deutlich zugenommen hat. Gründe können sicherlich die verschiedenen Aktivitäten im September sein - sprich Oktoberfest und Ähnliches, viele Menschen eng beisammen ohne Maske. Die Folge: Anstieg an Infektionen.
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ZDFheute: Was sind denn die Szenarien, wenn man es einfach weiterlaufen lässt? Kann man das vorhersagen?
Lehr: Wenn nichts passiert, werden wir ein großes Problem bekommen, weil dann die Infektionszahlen wirklich massiv ansteigen werden.
Das bedeutet zum einen, dass wir viele Infizierte haben, das spiegelt sich am Ende auch in den Krankenhäusern wider - sowohl auf den Intensivstationen als auf der Normalstation.
Aber das bedeutet auch, dass wir viele Erkrankte haben, die einfach das System lahmlegen werden: Krankenhauspersonal, aber zum Beispiel auch viele Lehrerinnen und Lehrer, Erzieher, Erzieherinnen, die dann ihren Tätigkeiten nicht mehr nachgehen können. Und damit schränkt es uns am Ende alle ein. Das sollte es zu verhindern gelten.
Das Robert-Koch-Institut hat wieder einen deutlichen Zuwachs an Corona-Fällen registriert. Die deutsche Krankenhausgesellschaft warnt bereits vor einer Überlastung der Kliniken.
ZDFheute: Wie ausschlaggebend sind die jetzigen Zahlen für die kommenden Monate?
Lehr: Wir sprechen eigentlich nur über die nächsten Tage. Aber wir müssen sehen: Der Winter, die dunkle Jahreszeit ist noch sehr lange. Ich erwarte auch, dass eine neue Variante kommt.
Das heißt, selbst bei gleichbleibenden Maßnahmen greifen die nicht mehr so stark. Deswegen ist es auch wichtig, dass wir in den Winter mit angezogener Handbremse reingehen und nicht mit Vollgas gegen die Wand fahren. Vorsicht und vorausschauende Handlung sind wichtig, damit wir einfach das System schützen. Und uns selbst.
ZDFheute: Was bedeutet es, wenn zum momentanen Zustand eine neue Variante kommt?
Lehr: Wenn wir eine Variante bekommen, die auch noch eine schwere Krankheitslast hat, dann werden die Karten noch einmal neu gemischt und die Situation könnte deutlich schlimmer werden als das, was wir gesehen haben.
Wir können durch unser Verhalten sehr viel beeinflussen: mit wem wir uns treffen, wie wir uns treffen, an welche Regeln wir uns halten. Und wir müssen einfach schauen, dass wir als Bevölkerung unseren Teil dazu beitragen, dass die Zahlen nicht so hoch gehen.
Fazit des Münchner Oktoberfests: Die Inzidenz war zum Ende fast viermal so hoch wie zu Beginn der Wiesn.
ZDFheute: Die Menschen sind Corona-müde. Reichen Appelle aus?
Lehr: Wir wissen eigentlich aus der ganzen Menschheitsgeschichte, dass menschliches Verhalten absolut unvorhersagbar ist. Ich hoffe hier natürlich auf die Vernunft, und ich glaube, dass es sehr viele vernünftige Bürgerinnen und Bürger gibt, die sich der Tatsache einfach bewusst sind, dass es wichtig ist, dass etwas passiert.
Das Robert-Koch-Institut verzeichnet wieder einen deutlichen Zuwachs an Covid-19-Fällen und die deutsche Krankenhausgesellschaft warnt bereits vor einer Überlastung der Kliniken.
Die Menschen müssen jetzt erstmal frei entscheiden können, bevor letztendlich Maßnahmen erhoben und beschlossen werden.
Und das ist ganz wichtig, bevor wieder von Regierungsseite Maßnahmen verhängt werden. Ich glaube, da würde die Folgsamkeit nicht so groß sein, wie wenn es jetzt erst mal auf einer Freiwilligkeit basiert.
Das Interview führte Verena Garrett.