In Schweden sind die Maßnahmen gegen die Pandemie weniger streng als in anderen Ländern. Doch jetzt steigen die Todeszahlen. Was funktioniert gut und was schlecht?
Seit Monaten schauen viele Menschen auf Schweden und stellen sich die Frage: Hätte so die deutsche Reaktion auf die Pandemie aussehen können? Vor allem Kritiker der Corona-Maßnahmen berufen sich häufig auf Schweden.
Dort blieben Schulen und Kindergärten weitgehend offen, Restaurants unter Auflagen ebenso. Einschnitte im Alltag waren für Nicht-Risikogruppen deutlich geringer.
Opferzahlen und wirtschaftlicher Schaden hoch
Jetzt gibt es erste, vorsichtige Zahlen, ob sich dieser Ansatz ausgezahlt hat – und die sind nicht positiv: Mehr als 3.800 Todesfälle zählt die Johns-Hopkins-Universität aktuell. Das sind rund 3,8 Mal so viele Tote je Einwohner wie in Deutschland.
Das staatliche Konjunkturinstitut NIER geht davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt 2020 um rund sieben Prozent schrumpfen, die Arbeitslosigkeit auf elf Prozent steigen wird. Die schwedische Industrie ist sehr exportorientiert – und der weitgehend eingebrochen.
Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern hatte sich Schweden gegen einen Lockdown entschieden. Das Land setzt zur Corona-Bekämpfung weitestgehend auf die Vernunft der Bürger.
Schweden setzt auf Freiwilligkeit
Dass Schweden dennoch an seinem liberalen Ansatz der Krisenbewältigung festhält, liegt für den Gesundheitssoziologen Prof. Dr. Claus Wendt von der Universität Siegen auch daran, dass Schweden grundsätzlich auf Freiwilligkeit in der Gesundheitspolitik setze.
Er warne davor, die neusten Daten zu überinterpretieren, erst gegen Ende des Jahres könne man umfassend bewerten, wie sich der schwedische Ansatz bewährt hat.
Einschränkungen digital maßgeschneidert anstatt flächendeckend
Präventionsarbeit und innovative technologische Ansätze spielten in Schweden eine große Rolle bei der Reaktion auf die Krise. "In Schweden sind die Epidemiologen viel einflussreicher als die Virologen. Das liegt vor allem an der Datenlage", so Wendt.
Elektronische Patientenakten und digitale Gesundheitsdaten würden seit Jahren viel umfangreicher vorliegen als in Deutschland und würden so in der aktuellen Krise genutzt, um in Echtzeit auf Entwicklungen reagieren zu können, betont Wendt.
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Pandemie-Bekämpfung mithilfe von Mathematik
Bringen uns die Maßnahmen gegen das Coronavirus weiter? Ein Blick auf die Zahlen kann uns bei der Einschätzung helfen, sagt der Mathematiker Stefan Thurner im ZDFheute-Interview.
Trotzdem sterben übermäßig viele Alte
Diese fortschrittlichen Ansätze scheinen bei vielen Risikogruppen jedoch keine ausreichende Wirkung zu zeigen. Menschen über 65 Jahren haben aktuell nach Angaben der schwedischen Statistikbehörde SCB wie in anderen Staaten auch eine deutliche Übersterblichkeit, es sterben also mehr Personen als sonst üblich. Vor allem Alten- und Pflegeheime sind betroffen.
"Die Alten selbst stehen durch den Wohlfahrtsstaat eigentlich relativ gut da und in Schweden wird auch nicht diskutiert, dass man die Alten jetzt schlicht opfern müsse", sagt Wendt. Privatisierungen und Sparmaßnahmen in der Pflegebrache führten aber dazu, dass viele Maßnahmen zu spät gegriffen hätten.
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Urbane Zentren auch hier Hotspot
Keinen Schutz gegen eine Ausbreitung bietet auch Schwedens geringe Bevölkerungsdichte. Mit einer Urbanisierungsrate von rund 87 Prozent leben in Schweden nämlich mehr Menschen in Städten als etwa in Deutschland.
"Die Hauptstadt Stockholm und Umgebung sind auch hier Schwerpunkt der Erkrankungen", sagt Wendt. Zusätzlich hätten wie auch in Österreich die Skigebiete des Landes eine zentrale Rolle bei den Infektionen gespielt.
Viele Schweden weiterhin überzeugt von der Krisenpolitik
Aktuell warnen mehrere skandinavische Gesundheitsinstitute davor, Grenzen zu Schweden wieder zu öffnen. "Wenn Nachbarländer jetzt keine Schweden ins Land lassen wollen, dann fühlt man sich zu Unrecht stigmatisiert", sagt Wendt.
Tatsächlich hätten noch immer viele Schweden das Gefühl, es müssten sich eher die anderen Staaten rechtfertigen, strengere Maßnahmen angewendet zu haben – nicht man selbst. Auch große Debatten über Falschinformationen und Verschwörungstheorien wie in Deutschland habe Wendt in Schweden noch nicht beobachtet.
"Selbst wenn die Krise weiter zunimmt, noch mehr Menschen sterben, rechne ich nicht damit, dass das Vertrauen der Schweden in Politik und Institutionen grundsätzlich erschüttert wird", vermutet Wendt.
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