Joe Biden wird vor seiner Vereidigung eine Gedenkzeremonie für Corona-Verstorbene abhalten. Deutschland tut sich damit schwerer. Historikerin Ute Frevert erklärt, warum.
ZDFheute: Warum verfängt die Idee eines Gedenkaktes für die Toten der Pandemie in den USA, in Italien, Spanien und anderen Ländern, aber nicht in Deutschland?
Ute Frevert: Mit politischen Trauerbekundungen und Ritualen geht die Bundesrepublik sparsam um. Traditionell hat sie sich dabei auf das Gedenken an die Millionen Toten des Ersten und Zweiten Weltkriegs konzentriert, anfangs nur an die gefallenen Soldaten, später dann auch an die zivilen Opfer. Dieses Gedenken findet alljährlich am Volkstrauertag im November statt.
Der Volkstrauertag ist ein bundesweiter Gedenktag zum Ruhen und Erinnern. Sein Ursprung geht zurück auf 1919, nach Ende des Ersten Weltkrieges.
Daneben schob sich, ganz allmählich, eine neue Variante nationaler Trauer. Beim Grubenunglück von Lengede 1963 oder beim absichtsvollen Absturz des Germanwings-Flugzeugs 2015 trauerte die Gesellschaft um jene, die in einer außerordentlichen Katastrophe ums Leben gekommen waren. Kollektive Trauer gab es auch um die Opfer des rechtsextremen NSU-Terrors und um die Menschen, die bei einem islamistischen Anschlag 2016 in Berlin starben.
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Die staatspolitische Trauer hat sich also in Richtung einer bürgerschaftlichen Trauer erweitert. Hieran könnte man, wenn man wollte, bei der Trauer um Corona-Opfer anknüpfen. Allerdings ist das Virus kein Terrorist, kein Feind, der es auf uns abgesehen hat und dem wir den Krieg erklären. Länder wie die USA oder Frankreich, deren Präsidenten gern vom Krieg gegen Corona sprechen, haben es vielleicht leichter, nationale Trauerrituale aufzulegen. Trotzdem ist die Metapher falsch.
ZDFheute: Sind wir in Deutschland auch zögerlicher als andere, weil wir mit einem Gedenkakt alles richtig machen wollen? Großbritannien hat Schweigeminuten abgehalten - ein schnell umsetzbares Zeichen.
Frevert: Unsere Geschichte ist komplizierter, und die Erinnerung an staatliche und militärische Gewalt dominiert die nationale Trauerpraxis. In ihr spielt die Schweigeminute historisch keine große Rolle. Erfunden wurde sie tatsächlich in Großbritannien nach 1919, als eine Form des stillen, individuellen Gedenkens, in dem sich zugleich ein nationales Kollektiv bildet. In Deutschland hat sich das nicht durchgesetzt. Aber solche Traditionen ziviler Trauer bieten zweifellos einen besseren Anknüpfungspunkt als Politiker-Reden, Kranzniederlegungen und Streichquartette.
Der Tod ist zur täglichen Nachricht geworden, dargestellt in abstrakten Zahlen. Die Trauer kommt zu kurz. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Eine moralische Kapitulation? Brauchen wir ein öffentliches Gedenken für die vielen Toten der Pandemie?
ZDFheute: Trotzdem müsste auch so eine Schweigeminute von jemandem initiiert werden?
Frevert: Er könnte von Kirchen und Religionsgemeinschaften kommen, wobei fraglich ist, ob sie noch genügend soziale Reichweite besitzen. Am besten wäre eine Initiative, die von mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen getragen und die Idee konkretisieren würde.
ZDFheute: In der Schweiz haben sich Menschen zu Corona-Mahnwachen zusammengetan. Sie stellen zum Beispiel nachts auf Rathausplätzen Tausende von Kerzen auf.
Frevert: Das beißt sich bei uns mit einer anderen Tradition, die sehr wichtig ist: dem Gedenken an die antisemitischen Novemberpogrome 1938. Am 9. November stellen wir Kerzen neben die Stolpersteine, die an deportierte jüdische Bürgerinnen und Bürger erinnern. Kerzen für Corona-Tote könnten da falsche moralische und politische Assoziationen wecken.
Das Virus kennt keine staatlichen oder europäischen Grenzen, und es handelt, anders als warlords, vollkommen absichts- und richtungslos. Man stirbt nicht an ihm, weil man Teil eines nationalen, sozialen, ethnischen etc. Kollektivs ist oder für dieses Kollektiv steht. Deshalb haben kollektive Trauerrituale ein strukturelles Problem.
Das Interview führte Winnie Heescher, Korrespondentin im ZDF-Hauptstadtstudio.