Ein Bild mit antisemitischen Darstellungen hat einen dunklen Schatten auf die documenta 15 geworfen. Ein Kommentar von Anne Reidt, Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Kultur.
Das Bild des Anstoßes soll nun ganz verschwinden, der Druck ist zu groß geworden. Umso sichtbarer die verstörende Naivität der Ausstellungsmacher.
Was die von Kritik und Empörung offenkundig überraschte documenta und das Künstlerkollektiv als Erklärung für die volksverhetzenden Chiffren liefern, ist in seiner Einfältigkeit provokativ: Die mit Schweinekopf, Reißzähnen und Hakennase versehenen jüdischen Figuren nähmen, so lautet die Begründung, "Bezug auf eine im Kontext Indonesiens verbreitete Symbolik, z.B. für die korrupte Verwaltung, die militärischen Generäle und ihre Soldaten, die als Schwein, Hund und Ratte symbolisiert werden, um […] militärische Gewalt zu kritisieren."
Die Arbeit des Kollektivs sei "kulturspezifisch auf […] eigene Erfahrungen bezogen". Jetzt werde die Arbeit abgehängt, die "in diesem speziellen Kontext in Deutschland als beleidigend empfunden wird".
Deutsches Alleinstellungsmerkmal?
Ist es tatsächlich ein deutsches Alleinstellungsmerkmal, antisemitische Ressentiments in seit dem Mittelalter bekannten Stereotypen festzustellen und anzuprangern?
Die Welt zu Gast in Kassel. Ganz bewusst sollte der Gedanke des internationalen Kollektivs diese documenta prägen. Und siehe da, in einer für den Gastgeber besonders dringlichen Frage überraschen die Gäste mit eindeutigen Grenzüberschreitungen.
Und nun ist unklar: Lag es an Überzeugung oder Unkenntnis? Sensibilität ist im internationalen Austausch jedenfalls keine Einbahnstraße. War es von den Kuratorinnen zu viel verlangt, ein solches Werk am Ausstellungsort Deutschland mindestens sorgfältig einzuordnen und zu kontextualisieren?
Ausgangspunkt für Dialog verpasst
Zur Verteidigung führt Generaldirektorin Schormann an, jetzt sei der "Ausgangspunkt für einen Dialog" erreicht. Nein, er wurde in entsetzlicher Weise verpasst.
Was als intellektuell-ästhetisch anregende Inspiration aufgesetzt war, entwickelt sich zum Desaster. Die verschiedenen Perspektiven dialogisch zusammenzuführen, ist vorerst gescheitert. Was es in der Frage um Antisemitismus braucht, sind Genauigkeit, Klarheit und Wachsamkeit.
Das gilt auch für uns Medien. Nach bestem Wissen und Gewissen haben wir darüber berichtet, was wir zum Zeitpunkt der Dreharbeiten in der letzten Woche vor Augen hatten. Wie viele Kolleginnen und Kollegen wurden wir von den Ent- und Verhüllungen überrascht. Wir müssen noch genauer und geduldiger hinschauen.