Tag für Tag hoffen die letzten Einwohner von Mariupol, ihre belagerte und zerbombte Hafenstadt über Fluchtkorridore verlassen zu können. Einer Familie gelingt die Flucht zu Fuß.
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Jewgen Tischtschenko und seine Frau Tetjana Komisarowa mochten irgendwann nicht mehr warten. Vor einer Woche traten sie und ihre vier Kindern auf eigene Faust die rund 225 Kilometer lange Flucht nach Saporischschja an: zu Fuß.
Kaum mehr Essen oder Wasser
Der 37-jährige Techniker und seine 40-jährige Frau hielten es nicht mehr aus im Keller ihres Wohnblocks, in dem die Familie lebte, seitdem eine Granate durch das Dach geschlagen war. Immer wieder hatten sie sich auf der Suche nach Wasser und Lebensmitteln in Geschäfte geschlichen, doch von Mal zu Mal waren mehr Häuser zerbombt, lagen mehr Leichen auf der Straße wurde ihre Ausbeute noch magerer.
Ihre Kinder Julja (6), Oleksandr (8), Anna (10) und Iwan (12) hatten sie schon lange auf den Marsch vorbereitet. Zuerst freuten sie sich auf das Abenteuer, berichtet ihre Mutter. Zum ersten Mal seit langem verließen sie das Haus - und fanden nur noch Ruinen vor. "Als die Kinder das sahen, verstummten sie", sagt Jewgen.
Das russische Militär hatte erneut einen Fluchtkorridor für Mariupol zugesichert. ZDF-Reporter Dominik Lessmeister erklärt, ob Zivilisten aus der Stadt gerettet werden konnten.
Keller bietet Bett auf Betonboden
Mariupol und den schützenden Keller zu verlassen, war "hart", sagt Anna. Als die Bomben fielen und das Gebäude "stark wackelte", habe sie keine Angst gehabt, im Keller konnte sie mit Freunden aus der Nachbarwohnung spielen, erzählt die Zehnjährige mit dem flotten Pferdeschwanz. "Nur auf dem Betonboden zu schlafen, war nicht so toll". Der Fußmarsch nach Saporischschja aber setzte ihr und den Geschwistern zu.
Die Familie hat Glück, nach einem Tag entdeckt sie einen verrosteten Handkarren: ihren "goldenen Wagen". Von da an war vieles leichter: "Meine Frau schob das Dreirad mit unserer Jüngsten, ich zog den Karren mit den Taschen und meist noch einem Kind obendrauf", erzählt Jewgen.
UN-Generalsekretär Guterres plant kommende Woche Gespräche mit dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten, während die russische Großoffensive auf die Ostukraine weiter geht.
Fünf Tage zogen sie durch russisch kontrolliertes Gebiet, vorbei an russischen Kontrollpunkten. Den Soldaten erzählten sie, dass sie auf dem Weg zu ihren Verwandten seien, sagt Jewgen.
Aber jedesmal reagierten sie verwirrt, wenn sie erfuhren, dass er und seine Familie aus Mariupol stammen, sagt er: 'Warum geht ihr in diese Richtung, warum geht ihr nicht nach Russland?', hätten sie dann gefragt.
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Nachts fand die Familie Unterkunft und Essen bei den Einheimischen. Dann hatte sie erneut Glück: Rund hundert Kilometer vor Saporischschja, 125 Kilometer nach Beginn ihrer Flucht, trafen sie im russisch kontrollierten Ort Polohy auf einen Gemüsehändler. Kurzerhand lud er die Familie mit ihren wenigen Habseligkeiten in seinen zerbeulten Lieferwagen ein.
In Saporischschja angekommen, ergatterte die Familie Plätze in einem überfüllten Zug nach Lwiw. Von dort will sie weiter in die westukrainische Stadt Iwano-Frankiwsk und ein neues Leben beginnen. Nach der Hölle von Mariupol hat Anna nur noch zwei Wünsche: "Ich möchte in einer Stadt leben, die nicht so ist", sagt sie. "Und in der Ukraine".
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