Ein Video, in dem sich Ukrainer über ihre Situation in Deutschland beschweren, geht viral. Woher stammt es? Eine Spurensuche in einer internationalen Desinformations-Kampagne.
Ein Video, in dem sich scheinbar ukrainische Flüchtlinge über ihre Situation in Deutschland beschweren, sorgt für Diskussionen in Sozialen Netzwerken. Zu sehen sind mehrere junge ukrainische Männer und Frauen, die sich darüber beklagen, dass Berlin schmutzig sei, man in Läden nicht immer mit Karte zahlen könne und die Infrastruktur veraltet sei.
Das Video wird bei Twitter, Facebook, Telegram tausendfach geteilt, insbesondere von pro-russischen und rechtspopulistischen Accounts. "Dankbarkeit sieht eigentlich anders aus - das habe ich zumindest mal gelernt", schreibt der frühere stellvertretende Bundessprecher der AfD Georg Pazderski hämisch dazu. Unter dem Video hagelt es jeweils wütende Kommentare: "Ich denke, das sind Kriegsflüchtlinge - dann kann man doch nicht über ein Land herziehen, welches einem Gastfreundschaft gewährt", schreibt eine Nutzerin, "frech" und "undankbar" kommentieren andere.
Ausschnitte aus langer Dokumentation
Doch was steckt dahinter? Wer ist in dem Video zu sehen, wer hat es produziert? ZDFheute hat sich zusammen mit t-online auf Spurensuche begeben - und konnte die Protagonisten der Interviews ausfindig machen, eine Desinformations-Kampagne entlarven und eine Spur bis nach Belarus verfolgen.
Die Interview-Sequenzen stammen aus einer fast 47 Minuten langen Dokumentation über das Leben ukrainischer Flüchtlinge in Berlin. Der Titel: "Flüchtlinge in Deutschland - wie man ein Leben von vorne beginnt und in Berlin überlebt". In dem Video berichten sechs junge Menschen aus der Ukraine über ihre Erlebnisse als Neuankömmlinge in Berlin. Gefragt wurden sie unter anderem, was sie an ihrem neuen Leben mögen - und auch, was weniger.
Seit dem Einmarsch russischer Truppen in die gesamte Ukraine kursieren diverse Videos im Internet. Welche Strategien bei der Überprüfung helfen.
Original-Video von Ukrainern produziert
Ausgerechnet dieser Film - produziert von Ukrainern selbst - wurde für das tausendfach geteilte Propaganda-Video als Grundlage genommen: Gezielt verwendeten die Macher nur Sequenzen mit negativen Kommentaren, ließen sämtliche positiven Kommentare, erklärende und relativierende Sätze weg - und verkehrten manche Aussagen dadurch sogar ins Gegenteil.
So erklärt die Ukrainerin Angelina Bishep aus Charkiw im Propaganda-Video beispielsweise, das Geld, das sie als Geflüchtete erhalte, reiche nicht für ein normales Leben - dann endet der Ausschnitt. Im Original-Video erläutert sie jedoch ausführlich, dass sie genug zum Leben hat, da Lebensmittel günstig seien - während sie sich andererseits nicht ständig zum Beispiel einen Kaffee leisten kann, da viele Dienstleistungen teuer seien.
Macher des Original-Videos zeigt sich "geschockt"
ZDFheute hat die Protagonisten des Original-Videos kontaktiert. Das sehe aus wie aus dem Handbuch "Propaganda für Anfänger", erklärt Bishep gegenüber ZDFheute. Die Absicht dahinter sei klar: "Einen Konflikt heraufbeschwören zwischen Deutschen und Ukrainern. Uns als undankbar darstellen - indem man eine Minute aus einem fast 47-minütigen Video rausnimmt."
- Erfundener Mord - Polizei warnt vor Fakevideo
Die Polizei warnt vor einem Fake-Video, in dem behauptet wird, ukrainische Flüchtlinge hätten einen 16-Jährigen erschlagen. Was steckt dahinter? Eine Spur führt nach Russland.
Auch der Macher des Original-Videos, Roman Kontradiev, zeigte sich gegenüber ZDFheute entsetzt über das, was aus seinem Film gemacht wurde: "Als ich das gesehen habe, war ich echt geschockt und wütend. Aus meinem Video wurde das genaue Gegenteil gemacht. Sie wollen Ukrainer schlecht darstellen, als undankbare Leute, die Ansprüche stellen, die sich immer beschweren."
Seine Absicht sei es gewesen, einen "historischen Zeitabschnitt zu dokumentieren", sagt der 27-Jährige.
Kontradiev habe schon etliche Beschwerden bei Telegram eingereicht, um das Video zu blocken - vergeblich.
Spur führt nach Belarus
Manches deutet darauf hin, dass das Video von den Machern des Telegram-Accounts "Gelbe Pflaumen" aus Weißrussland stammt. Die erste bisher bekannte Quelle des Videos ist genau dieser Kanal, wo der Zusammenschnitt am 18. Mai gepostet wurde. Bisher sind keine Versionen des Videos ohne ein Wasserzeichen von "Gelbe Pflaumen" bekannt. Der Kanal wird dem Lukaschenko-Regime zugerechnet, Lukaschenko selbst lobte die Macher bereits explizit.
Für den Investigativ-Journalist Anton Motolko ist es keine Überraschung, dass das Video von dem Kanal geteilt wurde. Er traut den Betreibern sogar zu, das Video selbst produziert zu haben: "So etwas haben sie früher schon gemacht", schreibt er bei Twitter. "Sie werden von der Regierung finanziert und haben auch kein Problem mit Ressourcen." Die Betreiber des Telegram-Kanals haben sich auf Anfrage nicht geäußert.
Inzwischen liegt in einigen verbreiteten Videos noch ein zweiter Schriftzug über den Bildern: "Roter Oktober". Das ist ein im April entstandener deutschsprachiger Kanal mit pro-russischer Propaganda. Deren Version wurde etwa auch von Alina Lipp verbreitet, "Putins deutsche Infokriegerin". Sie lebt in Donezk und betreibt einen zweisprachigen Telegram-Kanal, der schon wiederholt mit Fakes aufgefallen ist.
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:
- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.