In Frankreich gehen tausende Erwachsene, die im Kindesalter missbraucht wurden, mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit. Hören Polizei und Justiz endlich zu?
Wenn Arnaud Gallais heute erzählt, wie er als Teenager sexuell missbraucht wurde, wird er deutlich: "Mein Onkel war als Missionar für die Kirche in Afrika. Wenn er bei uns in Paris zu Besuch war, haben meine Eltern ihn in meinem Zimmer schlafen lassen. Zwischen dem achten und elften Lebensjahr hat er mich zu sich ins Bett geholt und vergewaltigt."
Tausende teilen ihre Geschichte mit der Öffentlichkeit
Heute ist Gallais 40 Jahre alt. Mit anderen Missbrauchsopfern hat er ein Kollektiv gegründet. Gemeinsam sensibilisieren sie Personen, die in ihrer täglichen Arbeit mit Kindern zu tun haben. Auch in seinem Kollektiv bekommt der Pariser mit, dass immer mehr Missbrauchsopfer ihr Schweigen brechen. Zehntausende Französinnen und Franzosen haben in den letzten Monaten ihre persönliche Geschichte geteilt - in den sozialen Medien und zur besten Sendezeit im Fernsehen.
Den Stein ins Rollen gebracht hatte die Anwältin Camille Kouchner. In ihrem Buch "Familia Grande" schildert sie präzise, wie ihr Stiefvater ihren Bruder jahrelang vergewaltigt hat. Schätzungen zeigen, dass es über 160.000 Kindern und Jugendlichen jährlich ähnlich ergeht, sie Opfer von sexuellem Missbrauch in der Familie sind.
Vereine helfen Betroffenen
Betroffen seien alle gesellschaftlichen Milieus, sagt Louise Delavier. Vor fünf Jahren hat ihr Verein in Paris einen Chat für Missbrauchsopfer eingerichtet. Sie erzählt:
Mädchen wie Jungen seien Opfer von sexuellem Missbrauch, die Täter aber überwiegend männlich, betont die 30-Jährige. An ihre neun Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die den anonymen Chat betreuen, wenden sich auch viele Jugendliche. "Wir müssen das Vertrauen der Person gewinnen. Wenn wir merken, dass sie in Gefahr ist, fragen wir sie nach ihrem Namen und wo sie wohnt und melden ihren Fall der Polizei. Dazu sind wir verpflichtet", sagt Delavier.
Kommission hört Opfer an
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat Anfang des Jahres eine Sonderkommission beauftragt, Missbrauchsopfer zu befragen. Seit einem medialen Aufruf im September sind über 5.000 Berichte bei der Kommission eingegangen.
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Am dritten Novemberwochenende sind die beiden Kommissionsvorsitzenden Nathalie Mathieu und Edouard Durand, eine erfahrene Sozialarbeiterin und ein langjähriger Jugendrichter, in Bordeaux zu Gast. In einem Hörsaal empfangen sie Opfer, Angehörige und Hilfsorganisationen.
Die Opfer und sprechen minutenlang über ihre Jugend. Als eine 17-Jährige mit gebrochener Stimme erzählt, wie ihr Vater ihre Schwester und sie im Alter von 10 Jahren missbrauchte, fließen im Saal Tränen.
Kommission: Polizei nahm Hinweise nicht ernst
Die Vorsitzenden der Kommission hören zu, kommentieren kaum. "In den letzten Wochen haben wir unzählige Anrufe von Müttern erhalten, deren Kinder von ihren Ex-Männern vergewaltigt worden sind. Sie sind verzweifelt und beschweren sich, dass ihnen niemand glaubt", berichtet Durand.
In ihrer Zwischenbilanz kritisiert die Untersuchungskommission, dass die Polizei Hinweise von besorgten Müttern oft nicht entschieden nachgehe und mutmaßliche Täter lange das Sorgerecht behielten. Nur drei Prozent aller Anzeigen führen zu einem Urteil.
Gallais: "Wir müssen den Opfern endlich glauben"
Auch Arnaud Gallais appelliert an die Polizei und an die Justiz, härter durchzugreifen:
Die Kommission hat ihn in ihr Team berufen. Er möchte einen Beitrag dazu leisten, dass Opfer wie er selbst ernst genommen werden.
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