Tödliche Sommerhitze: Die unterschätzte Zahl der Hitzetoten
Tödliche Sommerhitze:Wie die Zahl der Hitzetoten unterschätzt wird
von Nils Metzger
24.06.2022 | 16:10
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Hitze fordert Tausende Menschenleben in Deutschland. In den offiziellen Statistiken werden Hitzetote aber kaum erfasst. Woran liegt das? Der aktuelle Stand der Hitzeforschung.
In diesem Jahr hat die Sommerhitze vergleichsweise früh begonnen. (Symbolbild)
Quelle: Marcel Kusch/dpa
Hitze tötet. "Jeden Sommer versterben mehrere Tausend Menschen zusätzlich. In den meisten Sommern sind das mehr Menschen als im Straßenverkehr versterben", sagt Stefan Muthers vom Zentrum für Medizin-Meteorologische Forschung des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit sei das noch nicht angekommen.
Rund 38.600 Menschen sind zwischen 2001 und 2015 in Deutschland an Hitze gestorben, so eine von Muthers mitverfasste Studie. Doch die Zahlen sind nur eine Schätzung, die Jahreswerte haben eine große Spannweite. Die offiziellen Statistiken hingegen große Lücken. "Das erschwert auf jeden Fall das ganze Ausmaß des Problems zu überblicken", sagt Muthers ZDFheute.
In der offiziellen Todesursachenstatistik kommt Hitze kaum vor. "Als 'hitzebedingter Sterbefall' werden Todesfälle nur sehr selten kodiert. Selbst in Sommern mit Hitzewelle sind das nur wenige Fälle. Das entspricht nicht der realen Größenordnung", erklärt Matthias an der Heiden, Statistiker am Robert-Koch-Institut (RKI).
"Wenn jemand an Hitze stirbt, ist die unterliegende Ursache oft eine Vorerkrankung – und die fließt in die Todesursachenstatistik ein, auch wenn auf dem Leichenschauschein bis zu drei Ursachen stehen", sagt an der Heiden. Mit dem seit Jahresanfang geltenden ICD-11-Standard der Weltgesundheitsorganisation sollen Todesursachen künftig besser in der Statistik abgebildet werden.
Am RKI arbeitet man gerade an einem weiteren Projekt, mit dem Todesursachen auch über Hitze hinaus besser erforscht werden können: der "zeitnahen Mortalitätssurveillance". "Innerhalb von drei Tagen nach Eintragung eines Sterbefalls ins Sterberegister bekommen wir dann eine Meldung, mit der wir auch den Sterbeort besser zuordnen können", sagt an der Heiden. November 2021 hätte das Vorhaben starten sollen, doch es gebe noch Probleme bei der Softwareumsetzung.
Wie schlimm ist der aktuelle Hitzesommer?
Am zurückliegenden Wochenende gab es an vielen Orten in Europa Rekordtemperaturen. Wie viele Menschen das das Leben gekostet hat, ist noch unklar. "Es war keine lange Hitzewelle; in den meisten Gebieten nur zwei Tage, damit kommt der Organismus noch gut klar. Die Dauer spielt eine wichtige Rolle", sagt Muthers.
Für die Zeit der Hitzewarnungen von Samstag bis Montag können wir noch keinerlei Abschätzungen geben, was das für die Mortalität heißt.
Stefan Muthers, Deutscher Wetterdienst
Auf der anderen Seite sei die Hitze aber sehr früh im Jahr gekommen, so der DWD-Experte Muthers. "Wir gewöhnen uns jedes Jahr im Laufe des Sommers neu an die Hitze. Wenn eine Welle früher im Jahr auftritt, hat das stärkere gesundheitliche Auswirkungen." Wie heiß und tödlich der Rest des Sommers wird, sei mit dem aktuellen Stand der Vorhersage nicht möglich zu sagen.
Wo gibt es die meisten Hitzetoten?
Hitze tritt nicht überall in Deutschland gleichermaßen auf. Regionen im Südwesten, zuletzt aber auch Brandenburg und die Donauregion sind stärker betroffen. "Das sind aber nicht zwingend auch die Regionen, wo die hitzebedingte Mortalität am höchsten ist. Es gibt zwar mehr Hitze im Süden, aber dafür sind die Menschen nicht mehr so vulnerabel", betont Muthers. "Warum das so ist, ist eine offene Forschungsfrage."
Die Zahl der Tropennächte mit Temperaturen über 20 Grad im Jahr 2020.
Quelle: ZDF/Deutsche Wetterdienst
Grundsätzlich ist Hitze vor allem für ältere Menschen gefährlich, insbesondere wenn sie, etwa bettlägerig in Pflegeeinrichtungen, sich kaum selbst Kühlung verschaffen können. Auch soziale Unterschiede machen sich bemerkbar:
Es gibt Untersuchungen, bei denen man klare Unterschiede zwischen sozial benachteiligten und privilegierteren Stadtvierteln festgestellt hat. In benachteiligten Stadtvierteln ist die Bebauung oft so, dass viel mehr Hitzebelastung auftritt.
Stefan Muthers, Deutscher Wetterdienst
Wird das Problem durch den Klimawandel immer schlimmer?
Grundsätzlich nimmt die Frequenz von Hitzesommern und damit auch die Zahl der Hitzetoten durch den Klimawandel zu. "Wenn die Temperaturen im Mittelwert über die ganze Woche über 20 Grad ansteigen, dann ist vorprogrammiert, dass auch die Mortalitätsrate ansteigt", sagt RKI-Statistiker Matthias an der Heiden ZDFheute.
An Tagen, an denen es heiß ist und den Tagen danach sterben deutlich mehr Menschen. Das ist ganz offensichtlich.
Matthias an der Heiden, Robert-Koch-Institut
Doch es gebe auch eine gewisse Anpassung. "Die Hitze der letzten Dekade hat weniger Todesfälle gefordert als etwa die 2003. Den meisten Menschen ist inzwischen klargeworden, dass solche Hitzewellen öfter kommen", so an der Heiden.
Noch ist die Hitze, die in Deutschland auftritt, in einem Bereich, den gesunde Menschen ohne Vorerkrankungen problemlos verkraften können – wenn man nicht gerade bei 40 Grad einen Marathon läuft.
Stefan Muthers, Deutscher Wetterdienst
Hitzewellen könnten vielleicht nicht verhindert werden, aber die negativen gesundheitlichen Effekte könne man deutlich reduzieren, sagt Muthers. "Da muss die Politik geeignete Maßnahmen ergreifen."
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Was kann gegen die Hitze getan werden?
Viele individuelle Maßnahmen gegen Hitze sind naheliegend: Schatten aufsuchen, Räume kühlen, ausreichend trinken. Doch auch auf Verwaltungsebene kann mit sogenannten Hitzeaktionsplänen gegengesteuert werden: Akute Hilfe während Hitzewelle und langfristige Überlegungen bei der Stadtplanung werden darin festgehalten – angepasst an die lokalen Gegebenheiten.
Bislang ist das Erstellen solcher Pläne freiwillig, oft scheitert es an Geld und Personal. "In vielen Kommunen ist das noch gar nicht als Thema angekommen. Auch Pflegeeinrichtungen wären in der Pflicht, sich mehr damit zu beschäftigen", sagt Muthers. Andere Länder wie Frankreich seien da schon weiter.
Für den RKI-Statistiker an der Heiden können auch aus der Corona-Krise Lehren für den Hitzeschutz gezogen werden:
In der Pandemie hat sich gezeigt, dass es wichtig ist, solche Daten aufzubereiten und zugänglich zu machen. Das kann zu einer besseren Reaktion auf solche Krisen führen und auch zu einer höheren Akzeptanz von Maßnahmen.
Matthias an der Heiden, Robert-Koch-Institut
Viele Forschungsfragen mit Blick auf Hitze seien noch offen. "Die Hitzesterblichkeit ist nur die Spitze des Eisbergs. Was wir noch nicht gut erfassen können, ist die hitzebedingte Morbidität. Das heißt, wie sehr werden Erkrankungen durch die Hitze schlimmer, wie sehr führt Hitze zu nicht-tödlichen Erkrankungen? Das wissen wir oft noch nicht."
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