Beim Hochwasser in Sinzig starben in einem Wohnheim 12 Menschen mit geistiger Behinderung. Es gibt Hinweise, dass sie nicht genug geschützt waren. Der Landrat will im Amt bleiben.
Der Druck auf den Landrat des Hochwassergebiets Ahrweiler, Jürgen Pföhler, nimmt stetig zu. Zu offensichtlich scheinen die Verfehlungen beim Hochwasser vor einem Monat. Am Dienstag forderte die CDU-Fraktion im Kreistag Ahrweiler in einer Pressemitteilung einen personellen Neuanfang: "Das Vertrauen der Menschen im Kreis Ahrweiler ist nicht mehr gegeben."
Pföhler selbst gab über die Kreisverwaltung hingegen bekannt, nicht zurücktreten zu wollen. Aktuell übt er sein Amt krankheitsbedingt nicht aus. Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelt gegen ihn wegen fahrlässiger Tötung.
Insbesondere geht es dabei um 12 der 133 Toten des Ahrtal-Hochwassers: Menschen mit geistiger Behinderung, die in einem Wohnheim der Organisation "Lebenshilfe" in Sinzig ertranken. Dass sie durch frühere Evakuierungen hätten gerettet werden können, hob auch Staatsanwalt Harald Kruse am 6. August hervor:
Menschen mit Behinderungen genießen besonderen Schutz
Es sind Opfer, die fassungslos machen. Sich selbst zu retten war für sie vermutlich besonders schwierig. Als Menschen mit Behinderungen waren sie mehr als andere auf frühzeitige Warnungen und Hilfe von außen angewiesen.
Offizielle Richtlinien sehen genau das vor: Der "Rahmen Alarm- und Einsatzplan Hochwasser" des Landes Rheinland-Pfalz schreibt etwa ab Warnstufe drei die "Unterstützung hilfsbedürftiger Personen bei der Räumung von gefährdeten Wohnungen" vor.
Bereits am 14. Juli um 17:17 Uhr warnte das rheinland-pfälzische Landesamt für Umwelt die betroffenen Gebiete im Landkreis Ahrweiler per höchstmöglicher Warnstufe fünf. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Koblenz erreichte die Flutwelle Sinzig am 15. Juli um 2:30 Uhr. Die Bewohner des Lebenshilfe-Hauses starben nach 2:40 Uhr.
Wohnheim lag in Überschwemmungsgebiet
Es gibt weitere Hinweise darauf, dass Kreis- und Stadtverwaltung vor einem Monat, am 14. und 15. Juli, vorhandene Informationen ignoriert und Schutzmaßnahmen unterlassen haben.
Das Wohnheim liegt laut Hochwassergefahrenkarten des Landes in einem sogenannten "nachrichtlich angezeigten Überschwemmungsgebiet" der Ahr.
Dort darf zwar gebaut werden, die Lage im Überschwemmungsgebiet sollte aber eine "Warn- und Hinweisfunktion" haben, wie es im Merkblatt "Festsetzung von Überschwemmungsgebieten" der für die Ahr zuständigen Struktur- und Genehmigungsdirektion Nord heißt.
Stadt ging von 200-jährlichem Hochwasser aus
Am 20. Juli sagte Andreas Geron, Bürgermeister von Sinzig, in der ZDF-Sendung "Markus Lanz", seine Stadt habe sich vorab auf ein sogenanntes HQ200-Szenario vorbereitet:
Hochwasserkarten zeigen jedoch, dass bereits ein zweihundertjährliches Hochwasser das Gelände des Wohnheims bedroht hätte. Im offiziellen "Landschaftsplan - Schutzgut Wasser" der Stadt Sinzig ist eine klare HQ200-Linie eingezeichnet. Das Gebiet innerhalb sei "durch Überschwemmung gefährdet". Das Lebenshilfe-Wohnheim liegt darin.
Hochwasserkarten zeigten eine Überflutung des Wohnheims
Auch die Hochwasserkarten des Landes unterstreichen das. Sie geben etwa an, welche Wasserhöhe bei verschiedenen Szenarien zu erwarten ist - in Rheinland-Pfalz wird dabei zwischen HQ10, HQ100 und dem selteneren HQextrem unterschieden.
"Das HQextrem in Rheinland-Pfalz ist definiert als ein Hochwasserabflussereignis, welches größer als HQ100 ist. Das HQ200 kann somit einem HQextrem entsprechen", sagt die Hochwasserexpertin Lisa Friedeheim, Geschäftsführerin der Ingenieurgesellschaft Hydrotec aus Aachen, zu ZDFheute.
Auch Daniel Bachmann, Professor für Hydromechanik und Hochwasserrisikomanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal, schätzt die Gefährdung so ein: "Wenn ich mir die Farben so anschaue, dann sind es zwischen 0,5 und einem Meter."
Schon bei dem von der Stadtverwaltung erwarteten 200-jährlichen Hochwasser wären also Schutzmaßnahmen am Lebenshilfe-Haus notwendig gewesen.
Landesamt für Umwelt warnte frühzeitig
Das Landesamt für Umwelt Rheinland-Pfalz teilte ZDFheute mit, dass "das bisherige HQ200 am Pegel Altenahr bei einem Wasserstand von 409 Zentimeter" lag.
Dass die Lage deutlich schlimmer als ein HQ200-Hochwasser wird, war in den Verwaltungen vor Ort bekannt. Das Landesamt für Umwelt warnte am Nachmittag vor einem Pegelstand von fünf Metern, um kurz nach 20 Uhr sogar vor fast sieben Metern.
Landkreis ordnete keine Evakuierung des Wohnheims an
Um 17:40 Uhr rief der Landkreis Ahrweiler einen Katastrophenfall der Stufe vier aus. Damit ist der Kreis für die Evakuierung der betroffenen Gebiete verantwortlich. Entsprechend richten sich die Ermittlungen aktuell vor allem gegen Landrat Jürgen Pföhler.
Evakuierungen ordnete er zunächst nicht an, sondern verschickte eine Katwarn-Meldung um 19:35 Uhr: "Aufgrund von Dauer- bzw. Starkregen muss örtlich mit Überschwemmungen gerechnet werden. Es wird mit einem Pegelstand der Ahr von über fünf Meter gerechnet."
Diese Meldung ging auch an die Stadt Sinzig. Erst um 23:09 Uhr ließ der Landkreis die Gebiete 50 Meter links und rechts der Ahr evakuieren - das Lebenshilfe-Haus liegt rund 250 Meter entfernt. Das Wasser stieg dort etwa drei Meter hoch bis über die Fenster im Erdgeschoss.
Gegenüber ZDFheute wollten sich weder Stadt noch Kreisverwaltung zu den genauen Abläufen des 14. und 15. Juli äußern. Auch der Betreiber Lebenshilfe machte mit Blick auf das laufende Verfahren keine weiteren Angaben.
- Was hat die Flut mit den Menschen gemacht?
Die Hochwasserkatastrophe am 14. und 15. Juli hat den Menschen im Ahrtal über Nacht teils alles genommen. Wie haben sie die Flut erlebt und wie geht es für sie weiter?