Wilde Naturvielfalt zwischen Ruinen - fast nirgendwo gibt es so viele "Lost Places" wie in Italien. Doch die verwunschenen Orte sind bedroht - durch Bauprojekte und das Internet.
Brachflächen, verlassene Hallen, alte Ruinen. Die Natur nutzt jede kleine Lücke zwischen Steinen und Beton – sofern der Mensch es zulässt. Es ist ein Kampf zweier mächtiger Gegner.
Italien ist das bevorzugte Revier von Sven Fennema. Hier sucht der Krefelder Fotograf nach Motiven. Er findet sie in Saronno. Inmitten der kleinen Stadt steht auf 120.000 Quadratmetern die Ruine der ehemaligen Autofabrik "Isotta Fraschini". Im 20. Jahrhundert wurden hier noch legendäre Luxus- und Sportautos gebaut. Sogar Greta Garbo gehörte zu den Kundinnen. Seit 1990 ist das Werk geschlossen.
Zwischen Stahlträgern und Betonplatten sprießen Büsche, Bäume und Sträucher bereits meterhoch in die Höhe. Mitten in einer verlassenen Montagehalle hat sich blühender Sommerflieder ausgebreitet. Eigentlich fühlt er sich in tropischen Gebieten auf trockenen Böden wohl. Aber auch hier im Schutz der Ruine hat er optimale Bedingungen gefunden.
Natur und Ruinen "im Dialog"
Die Natur holt sich das Areal mit aller Macht zurück. Was Fennema so fasziniert, ist die "Symbiose".
Das allerdings "im Dialog mit dem Gebäude. Und das bringt ganz erstaunliche Bilder", so Sven Fennema.
Damit allerdings ist schon bald Schluss. Eine Kunstakademie soll hier in wenigen Jahren entstehen - inklusive Museum und Wohnheim. "So wird hier ein Lebensraum geschaffen, in dem die Bürger dieses Gelände wieder in Besitz nehmen können", sagt Giuseppe Gorla, der Eigentümer der verfallenen Fabrik.
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Flächen werden wieder gebraucht
Auch wenn der wilde Wald rund um die Anlage bleiben soll: Der "Lost Place" ist dann Geschichte - so wie an vielen anderen Orten in Italien auch. Brachflächen, vor allem wenn sie wie in Saronno mitten in der Stadt liegen, werden wieder gebraucht. Fennema versteht das zwar, aber: "Natürlich ist es für mich manchmal traurig, wenn etwas verschwindet, was eigentlich noch viel schöner werden könnte."
Noch schlimmer allerdings, wenn in den einst geheimen Orten Vandalen wüten - so wie in der Villa la Romantica in Budria bei Bologna. Fennema hat in der verwunschenen Ruine schon zweimal fotografiert. Die Geschichte der Villa reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Adelige, Fabrikanten, Offiziere und sogar eine Oper-Sängerin haben hier gewohnt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verfiel das Gebäude.
Vandalismus in Villa la Romantica
Wurzeln brechen durch den Fußboden, ranken an den Wänden entlang. Das längst eingestürzte Dach wächst allmählich wieder zu. Eigentlich ein Ort für perfekte Fotos. Diesmal allerdings ist Fennema entsetzt: Die Wände sind mit Graffitis verschmiert, ein korkenzieherähnlicher Baum, der sich vor wenigen Jahren noch zwischen den ehrwürdigen Mauern emporgeschraubt hat, wurde abgeholzt und mitgenommen.
Der Grund sei das Internet. "Geheimtipps" wie die Villa werden plötzlich bekannt und schließlich zerstört. Sogar einige der alten Fresken wurden abgeschlagen.
- Wildnis zwischen Beton und Achterbahn
Echte Wildnis mitten in der Stadt? Schwer vorstellbar. Aber es funktioniert. Das zeigen Flächen in Frankfurt und Berlin. Voraussetzung: Der Mensch lässt es auch zu.
Fennema hält sich deshalb aus den Social-Media- und Internet-Communities der Lost-Places-Szene fern. Er stöbert stattdessen in alten Postkartenarchiven und sucht Satellitenkarten ab, "um spannende Strukturen zu erspähen". Noch werden in Italien mehr "Lost Places" stehen gelassen als in Deutschland. Hier habe der Krieg weniger verwüstet und man sei auch nicht "so sehr darauf erpicht, alles ordentlich zu halten" wie etwa in Deutschland.
Dichte Bäume, wackelnde Ziegel
Und tatsächlich wird Fennema fündig: Am Rande eines Örtchens in Norditalien steht eine uralte, kleine Kirche - eingerahmt von dichten Bäumen und Büschen. Das Dach ist halb zerfallen. Ziegeln wackeln bedrohlich. Sogar auf den Fenstersimsen wachsen schon Pflanzen. Der genaue Standort dieses "Lost Places" bleibt geheim. Und so soll es auch bleiben, wenn es nach Fennema geht
Denn die Stimmung hier sei "erhaben". Der Verfall habe seine eigene Patina entfaltet. "Sobald wir weg sind, ist es so, dass sofort die Natur Einzug erhält, sofort hineinwächst und sofort neues Leben bringt", schwärmt der Krefelder.
Mark Hugo ist Redakteur in der ZDF-Umweltredaktion