Im Missbrauchs-Skandal in der Kirche ist Ex-Papst Ratzinger unter Druck geraten. Die Kirche sei ein "Verantwortungsverdunstungsbetrieb", sagt eine Expertin bei "Lanz".
Pervers. Katastrophal. Monströs. Worte, die am Mittwochabend im ZDF bei Markus Lanz fallen. Gewählt, um die Dimension von Missbrauch in der katholischen Kirche zu beschreiben – und ihren Umgang damit. Auch der in Ruhestand versetzte Papst Joseph Ratzinger ist hier zuletzt in den Fokus gerückt.
Besonders prekär für ihn: der Fall Peter H. Der Priester wird 1980 nach mehreren Missbrauchsfällen in Bottrop und Essen nach München versetzt, um dort eine Psychotherapie zu beginnen. Erzbischof in München zu dieser Zeit: Ratzinger. Die Kernfrage nun: Was wusste Ratzinger über Peter H., als dieser in sein Bistum kam?
In den Missbrauchsfällen in der Katholischen Kirche möchte Joseph Ratzinger keine Verantwortung übernehmen. Müsste er aber, meint Journalistin Christiane Florin.
Religionsexpertin: Gefährdung war bekannt
Christiane Florin, Religionsexpertin und Teil der Runde bei "Lanz", hat das nun erschienene Anwaltsgutachten zu Missbrauch im Erzbistum München gelesen, sich mit Betroffenen unterhalten, weitere interne Dokumente und Protokolle studiert.
Nach allem, was man wisse, habe Essen das Erzbistum München darüber informiert, dass eine Gefährdung durch den versetzten Priester Peter H. bestanden habe, so Florin.
Florin: Erzbischof muss Verantwortung übernehmen
Anwälte hätten zudem eine Aktennotiz gefunden, in der es sinngemäß heiße, auch der Erzbischof sei über Peter H. informiert worden. Ratzinger aber bestreite das. Florin sagte dazu:
Florin weiter: "Die katholische Kirche ist eine hierarchische Ordnung. Der Erzbischof muss die Verantwortung übernehmen – selbst, wenn er nicht genau informiert gewesen wäre, was ich aber auch für unwahrscheinlich halte."
Kirchenexpertin: Ratzinger sollte Bedauern zeigen
Sie könne nicht nachvollziehen, warum Ratzinger nicht einen Schritt zurück mache, die Verantwortung eingestehe und aufrichtig bedauere, weitere Kinder wegen der Entscheidung seines Bistums in Gefahr gebracht zu haben.
Florin sagte zu diesem Vorgehen:
Theologe: Ratzinger ein Kämpfer gegen Missbrauch
Theologe Manfred Lütz, ebenfalls vertraut mit dem Gutachten und Ratzingers Person, will das so partout nicht stehen lassen. Mit Florin liefert er sich minutenlange und harte Diskussionen dazu, welche Schuld Ratzinger treffe.
Lütz beschreibt Ratzinger als "zutiefst ehrlichen" Menschen, der in Kampf und Wirkung gegen Missbrauch in der Kirche mehr erreicht habe als jeder andere Katholik.
Lütz: Stellungnahme Ratzingers "peinlich"
Seine Kernaussage: Die Stellungnahme Ratzingers im Münchner Gutachten zu den Missbrauchsfällen sei zwar in der Sprache "katastrophal" und "peinlich". Aber es gebe keine Beweise dafür, dass Ratzinger von der Gefährdung durch Peter H. wusste:
"Bevor man ihm das vorwirft - und das ist ja ein gravierender Vorwurf, Lüge oder sich rauswinden – muss man es beweisen", so Lütz.
Florin: Kirche nutzt codierte Sprache
Florin erwidert, dass Akten vernichtet worden seien und in Protokollen eine codierte Sprache angewendet wurde.
Als Beispiel nennt sie, dass dort dann eben nicht von Missbrauchsvorwürfen gegen einen Priester die Rede gewesen sei, sondern von einem "Alkoholproblem". So gesehen gehöre die Vermeidung klarer Beweisen zum System, darum gehe es "auch um Plausibilität".
Fast 500 Opfer im Erzbistum München
Florins Punkt ist aber vielmehr Ratzingers "verdammte Verpflichtung" moralisch Verantwortung zu übernehmen. Vor allem für die Opfer des Missbrauchs.
Allein im Erzbistum München gab es im Zeitraum zwischen 1945 und 2019 mindestens 497 davon. 173 der 235 Täter waren Priester.
Mehr zu dem Themenkomplex lesen Sie hier:
- Missbrauch in der katholischen Kirche
Die römisch-katholische Kirche wird in ihren Reihen vom jahrzehntelangen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen erschüttert. Die Aufarbeitung ist umstritten.