Zehn Jahre nach Bekanntwerden der Missbrauchsfälle in der Kirche zieht der Regierungsbeauftragte ein trauriges Fazit - es betrifft die ganze Gesellschaft.
2010 erschütterte der Skandal um sexuellen Missbrauch am Canisius-Kolleg das Land. Katholische Geistliche vergingen sich über einen langen Zeitraum an Kindern. Die Bilanz auf der Pressekonferenz zehn Jahre danach ist ernüchternd.
Vor zehn Jahren machte Jesuitenpater Klaus Mertes den vielfachen sexuellen Missbrauch von Kindern am Berliner Canisius-Kolleg publik. Was hat sich seitdem getan? Die Aussagen des Paters lassen einem den Atem stocken: Die Kirche reagiere nach wie vor mit einer "harten Verweigerungsfront", Aufklärungsbemühungen würden als "Kampagne gegen die Kirche" gedeutet.
Ein gesamtgesellschaftliches Problem
Zwar zeigt sich die Kirche einerseits öffentlichkeitswirksam bemüht, Licht ins Dunkel dieses Skandals zu bringen. Andererseits beklagen Kritiker dabei große Inkonsequenz.
Wie nötig die Aufklärung wäre, zeigte bereits 2018 das Ergebnis einer Studie, wonach zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3.677 Kinder und Jugendliche von sexuellem Missbrauch in Einrichtungen der Kirche betroffen gewesen seien. Mit dem Aufklären tausendfachen Missbrauchs von Kindern tut sich in Deutschland aber offenbar nicht nur die Kirche schwer.
Die unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs sieht ein fehlendes Bewusstsein für die Notwendigkeit eines gründlichen Aufarbeitens von Unrecht weitverbreitet in der Gesellschaft - auch in Institutionen wie Schulen, Sport- und Freizeitvereinen.
Digitale Medien befeuern sexuellen Kindesmissbrauch
Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung stellt am heutigen Dienstag in Berlin die Frage: "Wo stehen wir heute bei der Bekämpfung von sexueller Gewalt von Kindern und Jugendlichen?" Und zieht vorab schon ein trauriges Fazit: Die Fallzahlen sind unverändert hoch und sexueller Missbrauch erfährt völlig neue Dimensionen durch die digitalen Medien.
"Fälle wie in Staufen, Lügde oder Bergisch Gladbach machen deutlich, wie viele tausend Kinder, auch und gerade durch Familienangehörige und Menschen aus dem nahen Umfeld, Opfer sexueller Gewalt werden und wie viele Taten insbesondere im Netz on- und offline angebahnt, ausgeführt und geteilt werden", lautet die alarmierende Botschaft.
Strafrechtler: Politik trägt Teilschuld
Der Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke sieht im Kampf gegen Kindesmissbrauch auch die Politik stärker in der Pflicht. Diese trage eine Teilschuld an der fehlenden Aufklärungsbereitschaft der Kirchen. Es hätte von Anfang an "viel mehr Druck" aufgebaut werden müssen, "damit unverzüglich sämtliche relevanten Akten herausgegeben werden", so Putzke.
Heute sind viele Missbrauchsfälle strafrechtlich verjährt. Dennoch fordert auch der Philosoph und Autor Matthias Katsch, der einst als Schüler des Canisius-Kollegs persönlich von Missbrauch betroffen war und sich seit zehn Jahren für die Aufarbeitung des Unrechts einsetzt, mehr Druck seitens Politik auf die Kirche. . "Betroffene haben ein Recht darauf, dass die Verantwortung aufgedeckt und Ursachen untersucht werden, auch wenn die Straftaten verjährt sind", so Katsch.
In der Vergangenheit habe die Kirche nach dem Motto gehandelt: "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass." Katsch konkretisiert: "Es hat falsche Rücksichtnahmen gegeben, bis in die höchsten Kreise der Kirche." Tatsächlich musste sich bislang kein einziger deutscher Bischof verantworten - und der emeritierte Papst Benedikt sieht die Kirche noch heute als Opfer einer Kampagne.
Statt eines Wegschauens und Vertuschens müsse es endlich eine "Kultur des Hinsehens und Hinhörens geben", fordert Katsch, der auch als Mitglied der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs fungiert. Denn noch immer sei Kindesmissbrauch in Deutschland "traurige Normalität", so Katsch.
TV-Spot soll sensibilisieren
Mit einem neuen, heute präsentierten Spot, der breitflächig im TV und online ausgestrahlt werden soll, will der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung die Gesellschaft für das Thema weiter sensibilisieren. Missbrauchsopfer oder deren Angehörige können auch den Service des staatlichen "Hilfeportal sexueller Missbrauch" in Anspruch nehmen.