Nach Jahrhunderten vollzieht sich fast unbemerkt eine Art Kulturumbruch: Es gibt hierzulande keine kirchlich gebundene Bevölkerungsmehrheit mehr.
"Evangelisch oder katholisch?" - das war lange Zeit eine Gretchenfrage in Deutschland und meinte sehr unterschiedliche Lebenswelten. So galten beispielsweise Ehen zwischen zwei Personen unterschiedlicher Konfessionen früher bei vielen als Frevel. Kommunion oder Konfirmation und Freizeitaktivitäten in Kirchengemeinden gehörten zum Leben der meisten.
Doch auch wenn sich diese Lebenswelten längst geändert haben, waren noch immer 51 Prozent der deutschen Bevölkerung römisch-katholisch oder evangelisch. Doch jetzt - im Frühjahr 2022 - befindet sich in Deutschland erstmals seit Jahrhunderten keine Mehrheit der Menschen mehr im Schoß der beiden großen Kirchen.
Kirchenmitglieder schwinden schneller als erwartet
Sozialwissenschaftler Carsten Frerk von der "Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland" beobachte die Abwärtsentwicklung in den deutschen Kirchen schon seit längerem. "Sie hat sich in den vergangenen sechs Jahren aber stärker beschleunigt als vorher angenommen", so Frerk.
So gab die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) nun eine Hochrechnung ab, Ende 2021 wohl nur noch etwa 19,7 Millionen Mitglieder zu zählen (Vorjahr 20,2 Millionen). Prognosen sehen zudem derzeit noch etwa 21,8 Millionen Katholiken (Vorjahr 22,2 Millionen). Die Kirchen liegen damit unter der 50-Prozent-Marke. Laut Statitischem Bundesamt lebten 2021 in Deutschland 83,2 Millionen Menschen.
Wann und warum haben die Kirchen in Deutschland an Bedeutung verloren?
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Alte Kirchenmitglieder sterben, jüngere treten aus der Kirche aus
Neben dem natürlichen Tod vieler Kirchenmitglieder gibt es auch zahlreiche Kirchenaustritte. Nicht alle seien politisch motiviert, sagt Robert Stephanus, Vorsitzender des Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienstes. Die Motive reichten vom Steuernsparen bis zum Protest gegen die Kirche und ihren Umgang mit Missbrauchsfällen.
Tausenfacher Missbrauch in der Katholischen Kirche. Was klingt, wie eine wilde Verschwörungserzählung, ist tatsächlich die Wahrheit. Was ist los in der Kirche? Und: Wie konnt der Missbrauch so lange unentdeckt bleiben?
Regional gebe es im Bezug zur Kirche große Unterschiede, sagt Stephanus. In Bayern sei es anders als in Niedersachsen oder aber im Gebiet der früheren DDR, wo die Mitgliederzahl der Evangelischen Kirche zwischen 1950 und 1989 von fast 15 Millionen auf 4 Millionen sank, die der Katholiken sich auf etwa eine Million halbierte.
Viele Konfessionslose, aber auch Juden und Muslime
In Deutschland gibt es mittlerweile mehr als 40 Prozent Konfessionslose, die nicht ungläubig sein müssen. Viele weitere Einwohner sind zum Beispiel Muslime und Juden. Da es außerhalb der großen Kirchen noch Millionen weitere Christen gibt, zum Beispiel Freikirchler und Christlich-Orthodoxe, liegt die Quote der Christen nach wie vor über 50 Prozent hierzulande.
Abwärtstrend in drei Stufen
Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach nahm den beschleunigten Abwärtstrend der Kirchen und des Christentums in Deutschland unter die Lupe.
Beschrieben wurden "drei Stufen der Erosion": Zuerst verlieren Leute den "Glauben an die wesentlichen Inhalte des Christentums". So glaubten lediglich noch 37 Prozent der Bevölkerung, dass Jesus Gottes Sohn sei. Ende der 80er-Jahre waren es noch 56 Prozent.
"Abwendung von der christlichen Kulturtradition"
Die nächste Stufe sei dann der Kirchenaustritt. Darauf folge "die Abwendung von der christlichen Kulturtradition", auch wenn diese noch "eine gewisse Zeit" wertgeschätzt werde. Trotz rückläufiger Kirchenmitgliederzahlen stimmen laut Allensbach-Studie aber 70 Prozent der Befragten zu, dass das Christentum zu Deutschland gehöre, bei den Konfessionslosen immerhin 55 Prozent.
Das scheint die Menschen aber nicht von Kirchenaustritten abzuhalten - auch nicht in Zukunft. Eine Projektion der Kirchen geht davon aus, dass 2060 nur noch 30 Prozent katholisch oder evangelisch sein werden.