Der Westen kann Putin von einem Atomkrieg abschrecken, meint Henry Kissinger. Im ZDF beschreibt der frühere US-Außenminister, wie sich die Welt seit dem Kalten Krieg verändert hat.
Sehen Sie hier das Interview mit Ex-US-Außenminister Henry Kissinger aus dem heute journal.
ZDF: Hier ist der wohl berühmteste Ex-Außenminister der Welt. Guten Abend, Henry Kissinger.
Henry Kissinger: Guten Abend.
ZDF: Als 99 Jahre alter Politiker, da haben Sie den Kalten Krieg nicht nur in Gänze erlebt, sondern mitgestaltet. Ist die Situation heute gefährlicher?
Kissinger: Die gegenwärtige Lage ist komplizierter und insofern vielleicht gefährlicher. Und dann muss man bedenken, dass die verfügbaren Technologien bei allen Kontrahenten noch vielschichtiger und komplizierter sind, als dies während des Kalten Krieges war. Das Führungsvermögen, das jetzt gebraucht wird, das muss auch vielschichtiger und anspruchsvoller sein.
ZDF: In Ihrem neuen Buch "Staatskunst" porträtieren Sie ja Ihre Zeitgenossen, von Adenauer über Nixon bis hin zu Margaret Thatcher als Staatslenker, deren Politik später den Kalten Krieg beenden half. Was sollten denn die Lehren oder die Lehre für die heutigen Akteure sein, speziell für Präsident Selenskyj und auch die westlichen Akteure?
Kissinger: Die Ziele, besonders auf der Seite des Westens, müssen ganz eindeutig festgelegt und definiert werden. Die Politiker setzen sie um, das muss vereinbart werden. Sie müssen sich verständigen.
-
ZDF: Nun waren Sie jemand, der als Berater und als Außenminister von Präsident Nixon ja auch teils mit blutrünstigen Machthabern verhandelt hat. Und jetzt ist der Westen eigentlich noch geschlossen der Meinung, man sollte nicht mit Putin verhandeln. Sollte der Westen auf Putin zugehen?
Kissinger: Als Außenminister konnte ich mir die Verantwortlichen der Staaten nicht aussuchen, mit denen wir umzugehen hatten. Was wir getan haben, war darauf angelegt, eine friedvollere und ordentlichere Welt zu schaffen. In der gegenwärtigen Situation ist es so, dass die Verantwortlichen der Demokratien sich darüber klar werden müssen, was sie bereit sind zu verhandeln, worüber, und was sie unter gar keinen Umständen bereit sind, preiszugeben. Und sie werden dies sicher tun müssen in uneingeschränkter Zusammenarbeit mit den Opfern der Aggression, die Verantwortlichen und das Volk in der Ukraine. Und das ist die einzige denkbare Grundlage, auf der eine Lage nach dem Muster des Kalten Krieges gehandhabt werden kann.
ZDF: Also gibt es im Grunde gar nichts zu verhandeln, weil die Ukraine hat klipp und klar gesagt, das Territorium soll ganz bleiben. Also worüber sollte man dann mit Putin überhaupt verhandeln?
Kissinger: Der Präsident der Ukraine hat immer wieder gesagt, und auch noch in allerallerjüngster Vergangenheit, er werde nicht verhandeln über irgendwelche ukrainischen Gebiete, die ukrainisch waren am Tag, als der Krieg begann. Also, was es zu verhandeln gibt? Nun, die Tatsache, dass Russland alle Gebiete räumen muss, die es nach diesem Tag, nach dem Kriegsbeginn, erobert hat.
ZDF: Nun ist aber doch eine Verhandlung mit Putin relativ wenig wert, wie wir gerade gesehen haben bei dem Angriff auf Odessa. Nach dem Weizen-Deal, der geschlossen worden ist, kam einen Tag später Beschuss auf die letzte freie Hafenstadt. Also, was sind Verhandlungen wert?
Odessa am Schwarzen Meer - die Hafenstadt leidet immer wieder unter dem Beschuss russischer Raketen. Wie denken die Bürger über Verhandlungen mit Russland? Stimmen aus der Bevölkerung zeigen: Man hat gegenüber Russland wenig Vertrauen.
Kissinger: Man müsste wissen, ob es in der Vereinbarung irgendwelche Verpflichtungen gibt, die hier dann verletzt wurden. Aber wie dem auch sei: Verhandlungen werden auf jeden Fall beruhen müssen auf der Fähigkeit, Verletzungen zu verhindern. Und wenn die Verantwortlichen des Westens das vor den Verhandlungen festlegen, dann ist es richtig. Sie müssen vorher die Grenzen ziehen dessen, was sie unter keinen Umständen überziehen werden. Und ukrainisches Staatsgebiet aufzugeben, sollte nicht eine der Bedingungen sein, die wir akzeptieren können.
ZDF: Sie kennen Putin persönlich, Sie haben ihn zigmal getroffen. Trauen Sie ihm zu, einen Atomkrieg auszulösen?
Kissinger: Ob er fähig wäre, Atomwaffen einzusetzen? Das ist ein schwieriges Problem, vor dem alle Verantwortlichen stehen. Der Einsatz von Kernwaffen würde sicherlich eine Trennlinie überschreiten, hinter der es ganz schwer sein würde, überhaupt noch Grenzen zu ziehen. Und das ist eine Bedrohung, der die Länder 80 Jahre lang entgegengetreten sind. Und seit es seit 80 Jahren Kernwaffen gibt, ist niemand bereit gewesen, diese Grenze zu überschreiten. Wollte er dies tun, dann würde der Westen reagieren müssen - und zwar auf eine Art und Weise, die ihm klarmacht und allen klarmacht, dass Kernwaffen nicht hingenommen werden wie konventionelle Waffen und Streitkräfte. Und natürlich, ein Atomkrieg, gleich welcher Größenordnung, würde ein Maß an Zerstörung mit sich bringen, das Verhandlungen sozusagen unmöglich machen würde.
Es gibt so etwas nicht, wie einen begrenzten Einsatz hinzunehmen.
ZDF: Darauf beruhte ja das Gleichgewicht der Kräfte im Kalten Krieg. Und darauf berief sich auch die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt, die Sie immer skeptisch sahen. Jetzt hat Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende gesprochen, also ein Ende dieser Ostpolitik. Könnte das sogar der Anfang vom Ende der Globalisierung sein, die Sie mit Ihrer China-Politik begonnen haben? "Only Nixon could go to China" - vor 50 Jahren ging das ja los. Könnte da jetzt ein Endpunkt erreicht sein?
Kissinger: Die globalisierte Welt, die durch die Öffnung nach China und durch China geschaffen wurde, steht schwer unter Druck. Es gibt Spannungen zwischen den USA und China, es gibt Spannungen zwischen China und anderen Staaten in Asien. Und daher wird man sagen müssen: Die Annahme einer reibungslosen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in aller Welt - das ist nun sehr gefährdet. Und ich stimme da dem deutschen Kanzler zu.
Und die Herausforderung liegt nun darin, das zu verhindern, was dazu geführt hat, dass diese Zeitenwende, diese Dynamik angenommen hat, dass wir dieses Gleichgewicht der Kräfte nur noch mühsam herstellen können, und eine gewisse Zusammenarbeit. Da muss jede Anstrengung unternommen werden, um das zu bewahren.
ZDF: Und das hängt ja auch von den USA ab. Wie geht es bei Ihnen in Ihrem Land weiter? Wäre mit einer Wiederwahl Trumps oder eines ähnlichen Hardliner-Republikaners die Demokratie in Gefahr?
Kissinger: Die Demokratie in Amerika ist stark genug, um die Herausforderung durch Einzelpersonen zu überstehen und anzunehmen. Ich glaube nicht, dass die Person, die immer wieder genannt wird, eine Bedrohung ist. Ich glaube auch nicht, dass er nominiert oder gewählt werden wird. Die Demokratie in Amerika, ebenso wie Demokratien in vielen anderen Ländern, ist unter Druck, weil die Zusammensetzung der Bevölkerungen sich sehr ändert, das Maß an Technologie sich wandelt und weil die Länder jetzt auf ihre Wirtschaft und ihre Politik schauen müssen.
ZDF: Herr Kissinger, eigentlich hätte ich Sie gerne noch nach Ihrem Vermächtnis gefragt. Aber nach dem Gespräch habe ich den Eindruck, Sie sind noch gar nicht so weit für ein Vermächtnis. Deswegen: Worüber werden wir wohl in fünf Jahren mit Ihnen sprechen? Haben Sie etwas Optimismus für uns?
- Bleiben Sie auf Stand mit dem ZDFheute Update
Das Aktuellste zum Krieg in der Ukraine und weitere Nachrichten kompakt zusammengefasst als Newsletter - morgens und abends.
Kissinger: Ich glaube, die Welt durchläuft eine Zeit des tiefgreifenden Wandels, vergleichbar, wenn ich so sagen darf, mit der Aufklärung vor Jahrhunderten. Das heißt, das Anerkennen der Realität, die Fähigkeiten der Menschheit, die Art und Weise, wie man die Definition wissenschaftlicher Wahrheit handhabt, all dies durchläuft einen grundsätzlichen Wandel. Und natürlich geht das nie lautlos vor sich. Das stört und verstört, schafft aber auch Chancen und Gelegenheiten. Ich glaube, dass am Ende dieses Prozesses die Fähigkeit stehen wird, die Möglichkeit stehen wird, zu sagen: Es ist eine bessere Welt zutage getreten. Aber nur, wenn die, die an diesem Prozess beteiligt sind, ihre Pflicht tun und nicht aus den Augen verlieren, dass sie ja doch eine Verpflichtung tragen. Sie müssen die Anwendung der extremsten Destruktion durch moderne Technologie verhindern.
ZDF: Vielen Dank, Henry Kissinger, für dieses Gespräch und Ihnen alles Gute.
Kissinger: Herzlichen Dank, dass ich hier mit Ihnen reden durfte, und vielen Dank auch für die interessanten Fragen.
Das Interview führte Wulf Schmiese, Leiter des heute journals
Aktuelle Meldungen zu Russlands Angriff auf die Ukraine finden Sie jederzeit in unserem Liveblog:
Liveblog- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Russlands Angriff auf die Ukraine dauert an. Es gibt Sanktionen gegen Moskau, Waffen für Kiew. Aktuelle News und Hintergründe zum Krieg im Blog.