Präsident Wladimir Putin und Präsident Wolodymyr Selenskyj präsentieren sich im Krieg unterschiedlich. Ein Experte erklärt, wie sie Nachrichtenkanäle für ihre Ziele nutzen.
ZDFheute: In zahlreichen Videoansprachen wendet sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an das ukrainische Volk, die internationale Politik, die Weltöffentlichkeit. Welchen Eindruck vermittelt Ihnen Selenskyj?
Christian Schicha: Dass er in seiner Situation verzweifelt ist, ist offenkundig. Andererseits nutzt er strategisch alle vorhandenen Kanäle, um Menschen auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu erreichen: Etwa mit seiner digital übertragenen Rede vor dem Europäischen Parlament, die im Saal große Wirkung gezeigt hat.
Zu seinem Volk spricht er in unterschiedlichen Konstellationen: Einerseits staatstragend in Anzug und Krawatte, andererseits in Handyvideos im militärgrünen T-Shirt, wo er sich mit pathetischen Worten als Kämpfer darstellt und die Herzen seines Volkes erreicht.
ZDFheute: Sie haben Selenksyjs digital übermittelte Rede vor dem EU-Parlament erwähnt, in der er erneut eine EU-Mitgliedschaft für die Ukraine forderte und sagte: "Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben. (…) Aber wir kämpfen auch, um gleichwertige Mitglieder Europas zu sein." Welche Wirkungsmacht entfaltet Selenskyj mit seiner Art der Kommunikation im politischen Kontext?
Schicha: In Anschlussinterviews an die Rede haben wir zahlreiche tief beeindruckte und erschütterte Politikerinnen und Politiker gehört. Selenskyj hat deutlich vermittelt: Es geht in der Ukraine um Leben und Tod. Er hat sich da auch visuell sehr eindrücklich in Szene gesetzt und die Faust kämpferisch erhoben.
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Dabei weiß jeder, dass Selenskyj hochgradig gefährdet ist und es völlig unklar ist, ob er den Krieg überleben wird. Die EU-Parlamentarier sind aufgestanden, haben applaudiert, ukrainische Flaggen hochgehalten - symbolische Zeichen einer Verbindung.
ZDFheute: Zusätzlich zum militärischen Kampf liefern sich Russland und die Ukraine auch einen Kampf mit Worten. Wer hat die besseren "Waffen" in diesem Informationskrieg?
Schicha: Die russische Seite versucht es über klassische Ansprachen. Als Außenminister Sergej Lawrow bei den Vereinten Nationen in Genf gesprochen hat, haben viele Diplomaten als Zeichen des Protests den Raum verlassen.
In Russland selbst hat Präsident Putin jetzt weitere kritische Fernseh- und Radiosender abschalten lassen. Russland ist seit Jahren stark repressiv, schließt unabhängige Medienhäuser, verhaftet Kritiker. Da wird massiv Zensur ausgeübt, um die Kontrolle zu behalten. Das wirkt noch. Aber ich bezweifle, dass sich das Narrativ des Kremls mittel- und langfristig durchsetzen wird.
Mit seinen klassischen Ansprachen im russischen Staatsfernsehen erreicht er noch Menschen in meinem Alter. Aber die jüngeren Menschen, die sich über Twitter, YouTube, Instagram, Facebook, TikTok et cetera mit Informationen versorgen, die bekommen ein ganz anderes Bild vermittelt.
Selenskyj zeigt sich als Meister der strategischen Kommunikation. Er ist auf all diesen digitalen Kanälen präsent, zeigt dort Flagge, und stellt eine Gegenöffentlichkeit zur Kreml-Propaganda her.
ZDFheute: Putin galt vielen Beobachtern lange als "Paradebeispiel für gelungene Bildkontrolle". Ist ihm diese Kontrolle inzwischen entglitten?
Schicha: Wenn man Umfragen glauben darf, ist es immer noch so, dass eine knappe Mehrheit der russischen Bevölkerung meint, dass die russische Armee in der Ukraine einen berechtigten Einsatz führt. Das ist ein Ergebnis staatlich verordneter Lügen. Wenn Putin dem Juden Selenskyj faschistische Umtriebe vorwirft, spricht das für sich.
ZDFheute: In einer Videoansprache verunglimpfte Putin die ukrainische Regierung als "Bande von Drogenabhängigen und Neonazis". Was lesen Sie daraus?
Schicha: Die Bilder zeigen Putin allein in einer Art selbstgewählten Isolation. Wie zurechnungsfähig dieser Mann noch ist, kann ich natürlich aus der Ferne nicht beurteilen. Aber ich habe den Eindruck, dass Putin den Widerstand völlig unterschätzt hat und jetzt in Rage gerät.
Bei der Annexion der Krim ist das aus seiner Sicht viel reibungsloser gelaufen und er meinte wohl, dass das jetzt wieder so einfach über die Bühne geht. Möglicherweise wird ihm jetzt auch bewusst, dass die breite Ablehnung seines Handelns ihm mittel- und langfristig erhebliche Probleme bereiten wird, seine Politik zu legitimieren.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.
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