Die Soldatenmutter - eine Reportage aus dem Ukraine-Krieg
Kriegsversorgung in der Ukraine:Die Soldatenmutter
von Carl Gierstorfer
30.07.2022 | 09:26
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Krankenschwester Romashka arbeitet in einem ukrainischen Feldhospital nahe der Front. Sie kümmert sich um die verwundeten Soldaten und ist für viele dort ein moralischer Anker.
Romashka behandelt verwundete Soldaten von der Front. Die ukrainische Krankenschwester wird auch liebevoll "Soldatenmutter" genannt, da viele ihre Sorgen und Ängste mit ihr teilen.19.07.2022 | 9:20 min
"Ihr solltet Romashka kennenlernen", hatte uns ein Stabsarzt im Militärkrankenhaus in Saporischschja gesagt. Sie sei eine außergewöhnliche Krankenschwester, die Soldaten verehrten sie wie eine Mutter.
Also fahren wir gen Donezk im Südosten des Landes. In der Ferne steigen die Rauchfahnen der Artilleriegefechte in den hitzeschweren Himmel. Als wir unser Ziel, ein Feldhospital, erreichen, ist die Front kaum 20 Kilometer entfernt.
Notoperation und Schussverletzungen
Dort wartet Romashka auf uns. Der Tag beginnt hektisch, die Verwundeten der Nacht kommen an. Splitter haben einem Soldaten den rechten Unterschenkel zerfetzt. Notoperation. Ein Zweiter hat einen Durchschuss im linken Knie. Einem Dritten verkleben Explosionsstaub und Dreck die Augen.
Romashka empfängt die Verwundeten wie Söhne. "Mein Häschen, hier sind neue Socken für dich", sagt sie. Einem anderen erklärt sie in einer ruhigen Minute die Röntgenbilder seines Beinschusses. So vergeht der Vormittag.
Ruhe trotz Gefechten
"Ich bin überall und trotzdem unsichtbar", erklärt uns Romashka.
Wenn die Soldaten weinen, dann weine ich mit ihnen.
Krankenschwester Romashka
So vergeht auch der Nachmittag. Dann kehrt etwas Ruhe ein. Die leicht Verwundeten sitzen im Vorhof, rauchen und plaudern in der abendlichen Kühle.
Von fern grollt Geschützfeuer herüber und als sich die Nacht über das Krankenhaus legt, heulen die Sirenen. Luftabwehrgeschütze fliegen über das Gebäude, ein Wachsoldat folgt verträumt ihrer Bahn. "Vielleicht eine von den neuen amerikanischen Raketen", sagt er uns.
Kriegsverbrechen in der Ukraine07.07.2022 | 44:39 min
Romashka hat Zuflucht in der Ukraine gefunden
Trotz der nächtlichen Feuergefechte beginnt der nächste Tag ruhig. Romashka erzählt uns, wie sie als junges Mädchen während des Afghanistan-Krieges beschloss, Krankenschwester zu werden. Während der Wirren der 1990er Jahre musste sie ihre Heimat Tadschikistan verlassen und Zuflucht in der Ukraine suchen. Hier wurde ihr viel gegeben. Nun sei die Zeit gekommen, um etwas zurückzugeben.
Als ein Soldat vor ein paar Wochen ins Krankenhaus kam, merkte Romashka sofort, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Er war still, hatte Tränen in den Augen. "Junge, was ist los mit dir", fragte sie ihn. "Heute ist mein letzter Bruder gestorben", antwortete Ivan. "Seit heute bin ich Waise." Romashka bietet, ohne zu zögern, an: "Willst Du mein Sohn werden?" Und Ivan geradeheraus: "Ja, ich will."
Romashka ist für Soldat Ivan wie eine Mutter.
Quelle: Carl Gierstorfer
Heute besiegeln sie die Patenschaft in einer Kirche. "Kommt mit", fordern uns Romashka und Ivan auf. Eigentlich wollten wir danach noch gemeinsam essen gehen, doch dann bekommt Romashka einen Anruf. "Ein 200er", erklärt sie uns. "Wir haben einen toten Soldaten."
Das Aktionsbündnis Katastrophenhilfe hilft Menschen in der Ukraine und auf der Flucht. Gemeinsam sorgen die Organisationen Caritas international, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie Katastrophenhilfe und UNICEF Deutschland für Unterkünfte und Waschmöglichkeiten, für Nahrungsmittel, Kleidung, Medikamente und andere Dinge des täglichen Bedarfs. Auch psychosoziale Hilfe für Kinder und traumatisierte Erwachsene ist ein wichtiger Bestandteil des Hilfsangebots.
"Den Toten ihre Menschlichkeit zurückgeben"
Wir rasen zurück ins Hospital, wo der Leichentransport schon vor einem rechteckigen Gebäude wartet. Romashka streift sich eine FFP2-Maske und Latexhandschuhe über, geht in den hinteren Raum mit dem Seziertisch und lässt Wasser in eine Emailleschüssel laufen.
"Es geht gar nicht so sehr ums Waschen der Leichen, sondern vielmehr darum, den Toten ihre Menschlichkeit zurückzugeben", sagt sie und macht sich an die Arbeit. Schnell färbt sich das Wasser in der Schüssel blutrot. Ein Granatsplitter hatte die Lungenarterie des Soldaten getroffen.
Leichenteile werden an Tattoos oder Muttermalen identifiziert
Manchmal, sagt Romashka, kommen nur Leichenteile. Sie zeigt uns Fotos auf ihrem Handy, wie sie versucht, über Tätowierungen oder Muttermale die Identität der Toten zu bestimmen. Es sind schreckliche Bilder, die uns das wahre Gesicht dieses Krieges zeigen.
Dann geht Romashka vor der Leiche auf die Knie und spricht ein Gebet:
Als du hier warst, war ich in Sicherheit. Ich konnte in Frieden leben, weil du dein Leben für mich gegeben hast. Für mich und meine Kinder und deren Kinder.
Krankenschwester Romashka
Dies sei ihre Geschichte, sagt sie uns im Weggehen. Eine kleine Geschichte von der Front.
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