Die Ukrainerin und KZ-Überlebende Anastasia Gulej hätte nicht gedacht, dass sie erneut Tod und Vertreibung erleben muss. Auch mit 96 Jahren ist ihr Überlebenswille ungebrochen.
Anastasia Gulej wohnt in einer Zwei-Zimmerwohnung in Bad Kösen in Sachsen-Anhalt, mit hübschem Garten und einer hilfsbereiten Vermieterin. Aufrecht sitzt sie am Esstisch, spricht langsam und klar, setzt ihre Worte wohl überlegt. Doch wenn sie vom Krieg in der Ukraine spricht, streicht sie sich ein paar stille Tränen aus den Augen:
Auch ihre zweite Tochter mit ihren drei Kindern lebt noch in Sumy, im Osten der Ukraine.
Wenn die Sprache auf Russlands Präsidenten kommt, wird sie energisch, klopft mit der Hand auf die Tischplatte. Immer wieder, um ihren sonst so ruhigen Worten Nachdruck zu verleihen. Putin, so sagt sie, sei "ein Mörder", "ein Bösewicht, der keine Seele hat". Für ihre Heimat fürchtet sie darum das Schlimmste.
KZ-Überlebende Anastasia Gulej ist sich sicher: Putin plant, einen Genozid am ukrainischen Volk zu verüben.
Stalin, Hitler und jetzt Putin - Anastasia Gulej kennt Tod und Vertreibung
Krieg und Zerstörung - das alles hat Anastasia Gulej in jungen Jahren schon einmal durchmachen müssen, damals im Zweiten Weltkrieg, als die Deutsche Wehrmacht unter Adolf Hitler in die Ukraine einmarschierte. Dass sie nun noch einmal Tod und Vertreibung erleben muss, hätte sie nie gedacht. Doch auch mit 96 Jahren ist ihr Kampf ums Überleben ungebrochen. Sie habe Hitler überlebt und zuvor den Terror Stalins, sagt sie, da werde sie sich nicht von Putin unterkriegen lassen.
Zeitzeugin und KZ-Überlebende Anastasia Gulej erinnert sich an Stalin und Hitler. Sie ist davon überzeugt, dass sie Putin ebenso überleben wird.
Nun ist sie in Deutschland, verfolgt die Nachrichten und versucht Hilfe für Daheimgebliebene mit zu organisieren. Eigentlich wollte sie gar nicht fliehen, ihr Haus in Kiew verlassen. Doch nach den ersten Bomben-Nächten im Keller packte sie zwei Koffer und ihre Katze und fuhr zunächst nach Lemberg, und hoffte, der Krieg sei bald vorbei. Als die Russen weiter vorrückten, drängten Freunde sie, sich in Deutschland in Sicherheit zu bringen. Einer von ihnen ist Maik Reichel.
Das war anscheinend überzeugend. Schließlich konnte er Anastasia Gulej, ihren Sohn und eine Tochter im März in die Arme schließen.
Verbindung zu Deutschland: Als Zeitzeugin teilte Anastasia Gulej ihre Erlebnisse
Maik Reichel kennt Anastasia Gulej als Direktor der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen-Anhalt schon lange Jahre. Immer wieder ist sie seit dem Mauerfall hierhergekommen, um an Schulen ihre Geschichte zu erzählen, damit der Naziterror nicht vergessen wird. Im Sommer erscheint seine Biografie über sie.
Mark Reichel, Chef der Landeszentrale für politische Bildung: "Anastasia Gulej eine der wichtigsten Zeitzeugen der NS-Zeit".
Im KZ hielten sie alle zusammen: Ukrainer, Russen, Weißrussen
Wenn sie jetzt aus ihrer Vergangenheit erzählt, ist sie kaum vom Hier und Heute zu trennen. Am 15. April 1945 wurde das KZ Bergen-Belsen von der britischen Armee befreit. Damals war Anastasia Gulej mehr tot als lebendig: Nach Schuften im deutschen Schienenbau, Flucht vor dieser Zwangsarbeit, Internierung im KZ Auschwitz, Todesmarsch zum KZ Buchenwald, war die junge Frau schon grauhaarig, ausgezehrt und fast verhungert.
Doch sie erinnert sich vor allem an die Solidarität der Häftlinge untereinander - der Ukrainer, Russen und Weißrussen. Wie kann ich denn jemanden aus diesen Völkern hassen, fragt sie nachdenklich.
Anastasia Gulej erzählt davon, wie Weißrussen, Russen und Ukrainer im Zweiten Weltkrieg zusammenhielten.
Genauso wenig wie sie Deutschland hasst, das Land, das ihr als junge Frau so viel Leid brachte und sie jetzt so herzlich aufgenommen hat, wie sie sagt.
Anastasia Gulej hofft, dass sie bald wieder in ihre Heimat, in die Ukraine, zurückkehren kann. Auf die Frage, ob dies denn realistisch sei, antwortet sie mit einem Lächeln: "Ich denke, mein Herz ist realistisch. Und das sagt mir, dass wir alle nach Hause kommen".
[Zitate aus dem Ukrainischen übersetzt von Lina Navrotska]
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