Kann Vertical Farming gegen die Lebensmittelkrise helfen?
Hightech für die Ernährung:Vertical Farming gegen die Lebensmittelkrise
von Christina Gantner
18.06.2022 | 18:29
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Landwirtschaft muss bald neun Milliarden Menschen ernähren. Klimawandel, Pandemie und der Ukraine-Krieg verschärfen das Problem. Hilfe könnte ausgerechnet aus der Stadt kommen.
Die sichere Versorgung mit Lebensmitteln galt lange als selbstverständlich. Doch Kriege, Krisen und Klimawandel können das schnell ändern.14.07.2022 | 29:46 min
Ein gewöhnlicher Bauer ist Anders Riemann nicht: Wenn der Däne seine Salat- und Kräuterbeete sehen will, dann muss er sich erst einmal umziehen. Über Jeans und Hemd streift er einen weißen Schutzanzug, zieht Einweghandschuhe an und einen Mund-Nasen-Schutz.
Zuletzt schlüpft er noch mit seinen Schuhen in blaue Überzieher. Erst dann kann Riemann über eine Hygieneschleuse seinen Arbeitsplatz betreten – eine von außen unscheinbar wirkende Halle am Stadtrand von Kopenhagen.
Der ehemalige Banker ist Gründer und Geschäftsführer von "Nordic Harvest", der größten Vertical Farm Europas. Damit seine Salate und Kräuter hier ohne Pflanzenschutzmittel wachsen und gedeihen, ist die Halle hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. So wird sichergestellt, dass keine schädlichen Bakterien und Pilze an die Pflanzen gelangen. Herbizide, Fungizide und Insektizide werden damit überflüssig.
Vom Banker zum Gemüsebauern
Vor acht Jahren tauschte der Unternehmer Büro gegen Produktionshalle und Anzug gegen Schutzkleidung. "Ich war Finanzexperte in einer Investmentbank. Dort habe ich mir ein Bonus-Programm ausgedacht, das es den Angestellten der Bank ermöglicht, ihr Gehalt zu verdoppeln, wenn sie zu den High Performern zählten. Doch dann fragte ich mich: Ist es eigentlich in Ordnung, selbst so viel Geld zu verdienen und dabei nur so wenig für die Gesellschaft zu tun?"
Der Banker beschließt, sein Geld sinnvoll zu investieren. Und erkennt zeitgleich, wie drängend die Probleme in der Landwirtschaft sind: der hohe Einsatz von Dünger und Pestiziden, der Pflanzen, Tieren und Menschen schadet sowie das Grundwasser belastet.
Konventionelle Landwirtschaft verbraucht viel Wasser
Und die Liste geht weiter: Der enorme Verbrauch von Süßwasser. Die Abholzung großer Waldflächen, um neues Agrarland zu gewinnen. Die Zerstörung der Artenvielfalt durch Monokulturen und Pflanzenschutzmittel.
benötigt derzeit 38 Prozent der weltweiten Landfläche sowie
70 Prozent des genutzten Süßwassers und ist für 30 Prozent des Treibhauseffekts verantwortlich.
Quelle: Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen
Anders Riemann beschließt, sein Leben radikal zu verändern. Er wird Indoor Farmer, bringt sich vier Jahre lang im Selbststudium bei, was es braucht, um Pflanzen unter künstlichen Bedingungen in einem Gebäude ohne Tageslicht wachsen zu lassen. 2020 ist es dann soweit.
Basilikum und Rucola aus einer Halle in Kopenhagen
Mitten in der Pandemie baut er die Halle für seine Vertical Farm am Stadtrand von Kopenhagen. Auf bis zu 24 Meter langen Regalen, die 14 Etagen hoch bis unter die Decke der Halle ragen, will er die urbane Lebensmittelversorgung sichern.
Rucola, Spinat und Basilikum wachsen hier nicht in Erde – sie wurzeln direkt in Wasser, das mit Nährstoffen versetzt ist. Dadurch gelangen die Pflanzen leichter an Nährstoffe, was Dünger spart.
Zudem recycelt Anders Riemann die Flüssigkeit, womit er den Wasserverbrauch um 95 Prozent im Vergleich zum Anbau in Erde reduziert.
Photosynthese mittels LED-Dioden
Das Sonnenlicht, das draußen für das Pflanzenwachstum unentbehrlich ist, ersetzt er durch rund 20.000 Lichtpanele in den Zwischenräumen der Regale. Mehrere Millionen LED-Dioden mit speziellen Farbspektren ermöglichen die lebenswichtige Photosynthese der Pflanzen und regen das Blatt-Wachstum an.
Der Strom dafür stammt aus Windenergie – sie versorgt die gesamte dänische Hauptstadt mit klimaneutraler Energie. Und für die richtige Temperatur in der Halle sorgt die Abwärme der LED-Platten. So herrschen in der Halle konstant 22 bis 26 Grad.
Vertical Farm: Salate wachsen schneller
Da die künstliche Sonne in der Halle immer scheint, wächst der Salat schneller als draußen. So erntet der Vertical Farmer sehr viel häufiger als konventionelle Landwirt*innen: "Wir können zu den gleichen Kosten produzieren wie ein dänischer Bauer auf dem Feld draußen. Aber wir ernten alle 22 Tage. Das heißt ungefähr 15 Ernten im Jahr. Während ein dänischer Züchter manchmal zweimal - und manchmal sogar nur einmal pro Jahr anbauen kann."
Durch die Nähe zur Stadt kann die Farm Supermärkte in kürzester Zeit beliefern. Über 100 Supermärkte verkaufen bereits Riemanns Salate und Kräuter.
20 Indoor-Farmen könnten ganz Dänemark versorgen
Derzeit importiert Dänemark rund 70 Prozent des Blattgemüses aus dem Ausland. Hochrechnungen von Nordic Harvest zufolge könnte mit 20 solcher Indoor Farmen der gesamte Blattgemüsebedarf im Land gedeckt werden. "Gerade jetzt mit Corona und dem Ukraine-Krieg wird klar: Die Lebensmittelversorgung ist angreifbar", sagt der Unternehmer.
"Deshalb brauchen wir Lebensmittelproduktionen in den Städten, als Teil der Infrastruktur. " Mit seiner Vertical Farm will Anders Riemann Pionierarbeit leisten und die Entwicklung vorantreiben. Er ist optimistisch, dass Hallen wie seine bald in Städten auf der ganzen Welt zu einer sicheren und gesunden Ernährung beitragen.
Seit dem Ukraine-Krieg mangelt es in weiten Teilen der Welt an Getreide. Um die Kornkammer wieder anzubinden, will Rumänien nun alte Routen reaktivieren - doch die Zeit rennt.