Vorschläge gegen Lehrermangel:"Fachkräftegewinnung ist unser neues Hobby"
von Kristina Hofmann
Kreativ gegen Lehrkräftemangel:Mit Arbeitsbefreiungen den Unterricht retten
|
An Deutschlands Schulen herrscht eklatanter Lehrermangel. Neue Lehrer auszubilden dauert. In Lengenfeld im Vogtland geht man deshalb andere Wege, Unterrichtsausfall zu minimieren.
Unterricht statt Ausfall: In Sachsen helfen Mitarbeiter einer Firma in der Schule aus. (Symbolbild)
Quelle: dpa
Als sich Sylvia Scioch an diesem Mittwochmorgen im sächsischen Lengenfeld auf den Weg zur Arbeit macht, hat sie Hausaufgaben im Gepäck. Eigentlich plant sie Produktionsabläufe bei der Firma Kobra, die Gussformen für die Betonindustrie fertigt und in alle Welt liefert.
Doch an diesem Mittwoch enthält ihre Aktentasche vor allem Übersichten über spitze und stumpfe Winkel und Arbeitsschritte, wie man einen überstumpfen Winkel berechnet, wo doch der Winkelmesser bei 180° endet.
Ich rechne alle Aufgabenstellungen aus den Lehrbüchern zu Hause selbst nochmal durch.
Sylvia Scioch
"Damit ich auch weiß, ob ich es den Schülern nachher vielleicht nochmal anderes darlegen kann, als auf den Tafelbildern dargestellt", erklärt Sylvia Scioch.
Nach der Arbeit in die Schule - als Lehrerin
"Nachher", das ist gegen elf Uhr, wenn Sylvia Scioch ihrer Firma den Rücken kehrt und sich auf den Weg hoch zur Lessing-Oberschule in Lengenfeld macht, wo sie in wenigen Minuten vor den Schülern einer 5. Klasse stehen wird, die ohne sie ganz einfach heute ohne Lehrer bleiben würden.
"Das geht ganz einfach", winkt Kobra-Geschäftsführer Holger Stichel auf die vielen Fragen ab, die sich ergeben:
Genaugenommen geht Frau Scioch auf eine Dienstreise, die Arbeit, die hier liegenbleibt wird für die paar Stunden von ihren Teamkollegen mit übernommen.
Holger Stichel, Kobra-Geschäftsführer
Lösung aus Corona-Lockdown Vorbild für Lehrerersatz
400 Mitarbeiter arbeiten bei Kobra, 150 von ihnen stammen aus Lengenfeld, gingen hier zur Lessing-Oberschule und schicken auch ihre Kinder heute dorthin. Den Lehrermangel, der in ganz Sachsen Riesenlöcher in die Stundenpläne reißt, spüren sie auch hier im Ort.
Ausgerechnet jetzt, wo Corona bei den Kindern immense Wissenslücken gerissen hat. Schüler, die heute die 5. Klasse besuchen, haben bis jetzt fast die Hälfte ihrer Schulzeit in den verschiedenen Lockdowns zu Hause verbracht.
Auf die Frage, wie sie denn ohne pädagogische Ausbildung plötzlich Mathe-Nachhilfe geben könne, erklärt Katrin Graupner aus dem Kobra-Vertrieb:
In den zwei Jahren Homeschooling war ich ja auch eine Lehrerin ohne Ausbildung.
Katrin Graupner, Mitarbeiterin im Vertrieb bei Kobra
Katrin Graupner kam auf die Idee, die fehlenden Lehrer an der Lessing-Oberschule behelfsweise mit Firmenmitarbeitern zu ersetzen - und rannte bei ihrem Chef offene Türen ein.
Mittelstand hofft auf Nachwuchs aus den Klassen
Denn wie alle Mittelständler, so spüren sie auch hier schon den Fachkräftemangel.
Wir als Firma wollen ja auch mal Lehrlinge haben.
Katrin Graupner, Mitarbeiterin im Vertrieb bei Kobra
"Und vielleicht erinnern die sich bei ihrer Berufswahl dann an uns und sagen: Hey, die haben uns ja damals auch geholfen ... also vielleicht bringt's ja was", hofft Katrin Graupner.
Vor allem bringt es eine Umstellung mit sich. "Als ich das erste Mal vor der Klasse stand", erinnert sich Sylvia Scioch auf dem Weg zur Schule, "war ich schon aufgeregt, das hat sich aber schnell gelegt: Die Kinder sind einfach wissbegierig und verhalten sich altersgerecht."
Pädagogische Stütze für "unterrichtsbegleitende Lehrkraft"
"Altersgerecht" heißt wohl auch, mit den Mühen des Alltags klarzukommen. So hat etwa die Hälfte der Schüler heute eben keine Hausaufgaben mitgebracht, weil einer von ihnen in den Klassen-Chat geschrieben hat, dass die Aufgaben erst übermorgen kontrolliert würden - ein Fehler.
Ein kurzes Durchatmen, dann eben gemeinsam. Sylvia Scioch geht die Aufgaben durch, wandert von Tisch zu Tisch und erklärt geduldig. Doch das Fachliche ist das eine - für pädagogische Fragen, oder falls mal etwas aus dem Ruder laufen sollte, sitzt eine Schulpädagogin mit im Raum.
Denn obwohl Sylvia Scioch hier praktisch einen vollwertigen Unterricht anbietet, gilt sie nicht als Lehrerin, sondern offiziell als "unterrichtsbegleitende Lehrkraft", eine Art Nachhilfelehrerin sozusagen.
Sachsen stellt Millionen für Ersatzunterricht bereit
Dieser Unterschied ist Anke Barth sehr wichtig, die zwei Etagen darüber im Schulleiterzimmer den Lehrermangel verwaltet. In diesem Fall hilft dabei das Bundesprogramm "Aufholen nach Corona", das allein in Sachsen knapp 50 Millionen Euro bereitstellt, mit denen Schulen Nachhilfestunden finanzieren können.
Natürlich sei die Qualität des Unterrichts gewährleistet, versichert Anke Barth: "Meine Fachlehrer stehen in engem Kontakt mit den Kobra-Leuten."
Es gibt einen regelmäßigen Austausch über Inhalte und Aufgaben und es gibt ein Kontrollsystem, auch im Unterricht durch die Fachkraft.
Anke Barth, Schulleiterin
Firmenchef: "Aufgabe der Politik für genug Lehrer zu sorgen"
Zudem sei es auch für die Berufsorientierung der Schüler wichtig, wenn Unternehmen früh ins Boot geholt würden. Eine Win-Win-Situation also? Ein Beispiel wie Schulen und Wirtschaft den Lehrermangel mildern könnten? Schon, und dennoch stellt Firmenchef Holger Stichel klar:
Es kann nicht sein, dass die Wirtschaft hier den Lehrermangel beseitigt.
Holger Stichel, Kobra-Geschäftsführer
Und ergänzt: "Es bleibt schon Aufgabe der Politik, für genug Lehrer zu sorgen - und eben einen Mathe-Lehrer nach Lengenfeld zu bringen."
Mehr über Lehrkräftemangel
Schulen in Deutschland :Fehlende Lehrer: 12.000 oder 40.000?
Lehrernotstand und Brandbriefe:Warum es in Sachsen-Anhalts Schulen hakt
von Annette Pöschel